Die Drachen Der Tinkerfarm
Tier. Eine böse, grausame Intelligenz lauerte hinter den kleinen Schlitzaugen.
Da hörte er das Donnern wie von einem heraufziehenden Gewitter, und das Herz schwoll ihm in der Brust. Er hatte nicht gewusst, was sie nachts trieben – ob sie überhaupt nahe genug waren, um das Signal zu hören. Das Donnern wurde lauter.Das Schwarzhörnchen erstarrte, blickte hierhin und dorthin, und die gelben Augen wurden groß und größer.
»Ja!«, schrie Tyler. »Ja! Na, wie gefällt dir das?« Und er sauste zum nächsten Baum.
Das Schwarzhörnchen zögerte einen Moment, hinter ihm herzuspringen, und das war schon zu lange. Plötzlich kamen die Einhörner über die nächste Bodenwelle aus dem Wald geschwärmt und ergossen sich gerade dort, wo es zu entkommen versuchte, wie eine Flutwelle nach einem Dammbruch über die Lichtung. Binnen Sekunden war die ganze Wiese um Tylers Baum herum ein brodelndes Meer heller Rücken und wehender Mähnen, stampfender Hufe und nadelspitzer Hörner.
Zehn Minuten später galoppierten die Einhörner endlich davon, merklich verärgert, weil sie kein Futter in den Trögen gefunden hatten und umsonst gerufen worden waren. Tyler kletterte vom Baum herab, und während er zurück zur Bibliothek humpelte, gelobte er sich im stillen, ihnen das eines Tages zu vergelten. Das war er ihnen schuldig. Sonst regte sich nirgends etwas – oder sah er da im zertrampelten Gras ein lahmes, gebrochenes Krümmen?
»Na, du kleines Ekel, wie schmeckt dir das?«, rief er über die Schulter.
Als er die Bibliothekstür aufmachte, kam Lucinda ihm mit einer Taschenlampe entgegengelaufen. »Tyler«, jammerte sie, »es ist furchtbar!«
»Wir denken uns was aus. Sie können sich wahrscheinlich kurz vor Morgengrauen zurückschleichen. Ich glaube nicht, dass sich Walkwell die ganze Nacht draußen herumtreibt, oder?«
»Nein, darum geht’s doch gar nicht! Steve ist … weg.«
»Weg? Was soll das heißen?«
»Komm mit.« Sie fasste ihn am Arm und eilte mit ihm durch die dunkle Bibliothek, dass ihre Schritte nur so hallten.
Plötzlich wusste Tyler, wohin sie ihn führte, und ihm wurde mulmig.
Die Tür zu dem Schlafzimmer gegenüber von Octavios Porträt stand offen. Als Tyler eintrat, waren Alma und Carmen dabei, mit ihren Taschenlampen jeden Winkel des kleinen Zimmers abzusuchen. Carmen, die Ältere, leuchtete ihn an.
»Tyler! Was ist denn mit dir passiert?«
Erst jetzt bemerkte Lucinda seine Wunden. »O Gott! Bist du verletzt?«
»Kümmert euch nicht um mich. Was ist mit Steve?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Lucinda. »Wir haben geredet, dann haben wir aufgeschaut, und er war nicht mehr da. Die Tür zu diesem Zimmer stand offen, und er … er war einfach weg. Er ist nirgends sonst in der Bibliothek. Wir haben alles nach ihm abgesucht. Er ist verschwunden!«
Tyler schaute in den Spiegel über dem Waschbecken. Im Augenblick war er so dunkel wie Vulkanglas. Er streckte den Finger aus und berührte zaghaft die Oberfläche.
Sein Finger tauchte darin ein.
»Au weia, das ist übel, echt übel.« Er schluckte und wandte sich den drei Mädchen zu. Sie sahen ihn entgeistert an. Tyler war selbst nicht ganz wohl bei der Sache. »Äh … ich glaube, ich weiß, wo er hin ist.«
25
EIN MUTTERHERZ
L ucinda starrte ihren Bruder an. Er sprach Englisch, aber sie verstand ihn nicht. »Was soll das heißen, du willst ›hinter ihm her‹? Wohin denn?«
»Na ja …« Er warf einen kurzen Blick auf Carmen und Alma, die beide wie vom Donner gerührt waren. »Lass gut sein. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren – da drin könnte es größer sein als hier. Es könnte überall hinführen.«
»Tyler, was redest du da?« Jetzt bekam es auch Lucinda mit der Angst zu tun. »Wir müssen Ragnar holen oder sonst jemanden.«
»Keine Zeit.« Zu ihrer Überraschung stieg Tyler auf die Waschkommode und packte den Rahmen, als wollte er sein Gesicht ganz genau studieren. Sie wollte ihn gerade fragen,was er da so interessant fand, als er die Augen schloss und sich in den Spiegel fallen ließ. Er stieß durch die Oberfläche, als tauchte er in einen stillen See, und verschwand.
»Tyler!«, schrie sie, aber er war fort. Sie stürzte vor und sah noch, wie er sich von ihr entfernte. Auf ihrer Seite des Spiegels gab es ihren Bruder nicht mehr, nur noch im Innern der Spiegelwelt. Der Schatten-Tyler bog um eine Ecke. Hinter sich hörte Lucinda die kleine Alma weinen.
»Was läuft hier eigentlich?«, rief Carmen, selber den Tränen nahe.
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