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Die Drachen Der Tinkerfarm

Die Drachen Der Tinkerfarm

Titel: Die Drachen Der Tinkerfarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Beale , Tad Williams
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wirklich gestohlen, oder war das Ganze nur ein Missverständnis zwischen ihm und Haneb? Aber spielte das noch eine Rolle? Nein. So fremd ihr das Empfinden der Drachin war, wusste Lucinda doch, dass Meseret sich vollkommen sicher war, was Colins Schuld betraf, und ihn auf der Stelle vernichten würde, um ihr Ei zurückzubekommen.
    Aber das Junge ist doch gar nicht am Leben! Warum war die Drachin so aufgebracht? Warum war sie so versessen darauf, ein totes Junges zu retten? Doch Lucinda spürte es ganz deutlich, dieses unbegreifliche Gefühl, das hinter allen anderen pulste wie der Grundbass in einem vielstimmigen Lied und erst dann richtig zu hören war, wenn man es von den helleren Stimmen im Vordergrund unterscheiden lernte.
    An den Rücken der fliegenden Drachin geklammert versuchte Lucinda verzweifelt, aus dem Wirbel fremdartiger Emotionen schlau zu werden. Fremdartig. Vielleicht lag da das Problem: Sie wollte die Drachengedanken in Menschengedanken übersetzen … dabei kam sie nur weiter, wenn sie mehr wie ein Drache dachte. Aber wie?
    Sie presste das Gesicht an die rauhe Haut und spreizte Arme und Beine so weit, dass sie möglichst viel Kontakt mit Meseret hatte. Selbst aus einigen Metern Entfernung fühlte sie das Auf und Ab der mächtigen Schultermuskeln. Wie mochte es sich anfühlen, so stark zu sein, fliegen zu können und diese gewaltige Körpermasse in die Luft zu erheben, durch die Wolkendecke hindurch? Wie ein Vogel in die Tiefe zu stürzen und lautlos zu schweben? Feuer in Bauch und Rachen zu habenund zu wissen, dass man es ausspeien und alles vor sich damit vernichten konnte?
    Bei dem Versuch, sich das Feuer und das Drachenempfinden vorzustellen, fühlte Lucinda auf einmal, wie sie tief in Meserets Innenleben absank. Sie war Meseret, nur noch ein kleines bisschen Lucinda blieb übrig.
    Feuer! Sie konnte es jetzt spüren – nicht im Bauch, sondern in Hautsäcken beiderseits der Kehle, aber nicht als etwas Fremdes, wie man es sich bei dem Wort »Feuer« vorstellte. Es gehörte zu ihr wie die Flügelspitzen oder die Zähne, ein heißer, lodernder Fächer, den sie zur Verteidigung und Drohung mit einem einzigen Gedanken vor sich ausbreiten konnte – zur Verteidigung, Drohung und zu einem noch wichtigeren Zweck, den sie nicht hatte fertig erfüllen können, was wie eine Wunde an ihr zehrte. Doch im Augenblick dachte sie eigentlich gar nicht an das Feuer, sie fühlte es nur, so wie sie ihre Schwingen schlagen und das Herz in der Brust pochen fühlte. Sie dachte nur an ihr Ei.
    Ihre Augen schweiften über die Landschaft, hielten Ausschau. Sie erblickte winzige Figuren, die ameisenartig dort unten entlanghasteten und deren Körperwärme so deutlich zu erkennen war wie oben das Licht der Sterne. In jäh aufloderndem Zorn stieß sie wieder nach unten …
    Die Steilheit des Sturzflugs, die Eindeutigkeit der Absicht brachte Lucinda schlagartig zu sich selbst zurück.
    »Nein!«, schrie sie. »Nein! Nicht!«
    Doch Lucindas Protest und ihre menschliche Piepsstimme bedeuteten gar nichts. Es war Meseret selbst, die erkannte, dass die laufenden Gestalten unter ihr nichts mit ihrer verlorenen Brut zu tun hatten. Selbst in dieser Höhe konnte sie ihre … Eilosigkeit riechen. Augenblicklich ließ sie von ihnen ab und stieg wieder empor. Diese dort hatten nicht, wonach sie suchte.
    Die Gedanken der Drachin zogen Lucinda wieder mit.
    Ihr Ei. Es war weniger ein Gedanke als ein Gefühl. Ihr Ei. Ein Ball voller Licht … voller Möglichkeit. Aber so vieles war falschgelaufen, seit sie sich zur Eiablage gerüstet hatte – daran zu denken tat schrecklich weh! Zuerst hatte es nicht die genau richtig riechende Erde zu fressen gegeben, und die Schale hatte sich nicht gut angefühlt. Deswegen hatte sie das Junge nicht mit ihrem Atem beleben können, und es hatte ohne Regung und Wärme lange über die Zeit hinaus dagelegen, zu der es hätte lebendig werden sollen – tot, wie die anderen auch. Doch im Unterschied zu den anderen war dieses nicht ganz eingegangen. Der Funke im Innern glomm noch, wenn auch immer schwächer.
    Dann war es gestohlen worden, und jetzt wurde es noch weiter weggebracht, und trotz der Benommenheit und Verwirrung, die ihr den Kopf schwer und die Gedanken träge machten, würde jemand dafür bezahlen müssen.
    Die freudige Phantasie, menschliches Fleisch wie Salat zu zerfetzen, es zu zerreißen und herumzuschleudern und hinunterzuschlingen, beförderte Lucinda schaudernd in ihr eigenes Innenleben

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