Die Drachen Der Tinkerfarm
viel geredet – zu viel. Wir haben zu arbeiten. Außerdem, was müsst ihr noch mehr erfahren? Die ganze traurige Geschichte ist mit wenigen Worten erzählt: Gideon verlor seine Frau und seinen Than in einer Nacht.«
»Seinen Than? Was ist denn das?«, fragte Tyler.
»Ach, das ist ein Wort aus meiner Zeit, nicht eurer. Das ist der Herr, dem der Knecht sein Gelübde leistet, könnte man sagen.«
»Wir sind hier in Amerika«, meinte Tyler. »Hier gibt es keine Herren und Knechte.«
Ragnars halbes Lächeln erschien wieder. »Worte ändern sich, die Menschen nicht. Octavio war in jeder Beziehung Gideons Herr. Aber was ihn brach, war der Verlust von Grace. Er suchte jahrelang nach ihr, bis er auch noch das Kontinuaskop verlor.« Er schaute sich um, zog ein wenig den Kopf zwischen seine breiten Schultern und fügte leise hinzu: »Er war da schon ein bisschen verrückt, glaube ich. Dann fiel das Kontinuaskop dem Laborbrand zum Opfer, und er konnte nicht einmal weiter nach ihr suchen.«
»Sie ist also einfach in der Verwerfungsspalte verschwunden«, murmelte Tyler vor sich hin. Lucinda bemerkte den eigenartigen Ausdruck im Gesicht ihres Bruders: Er starrte gedankenverloren ins Leere, als wäre er auf der letzten Ebene eines Spiels und vollkommen versunken. Wieso schaltete er ab, wenn sie endlich mal etwas erfuhren?
»Warum hat Gideon dich und die andern hergeholt?«, fragte sie.
Der Hüne schnaubte grimmig. »Du möchtest lieber reden als arbeiten, wie ich sehe. Er hat uns hergeholt, weil er Arbeiter brauchte, um den Hof am Laufen zu halten … Arbeiter, die seine Geheimnisse nicht ausplaudern.«
Tyler stand unvermittelt auf. »Ich muss mal kurz ins Haus!« Er drehte sich um und lief davon.
»Was ist mit deiner Arbeit, Junge?«, rief Ragnar ihm hinterher.
»Ich komm wieder, ehrlich!«
Lucinda starrte ihm nach und fragte sich, was er hatte. Sie hatte das starke Gefühl, dass sein Anteil der Arbeit letztlich an ihr hängenbleiben würde.
Eine heiße, schweißtreibende Stunde später schickte Ragnar sie endlich zurück zum Haus, Essen holen, während er Walkwell aufsuchte, um mit ihm über Zaunarbeiten zu reden.
Lucinda wusch sich gerade am Wasserhahn außen am Krankenstall den ärgsten Schmutz von Gesicht und Händen, als sich ihr plötzlich die Nackenhaare aufstellten. Sie sah sich um, ob vielleicht jemand hinter ihr war, doch es war niemand da: Sie stand ganz allein an dem klotzigen Betonbau. Da überkam sie wieder die unheimliche starke Ahnung, dass fremde Gedanken und Gefühle in sie einströmten und damit ein Verlustschmerz, der so heftig und plötzlich war, als hätte jemand einen Eimer kaltes Wasser über ihr ausgekippt.
Fort … fort … fort …!
Ihr erster Impuls war wegzulaufen – aber wie konnte sie vor etwas in ihrem eigenen Innern weglaufen?
Lucinda hielt sich die Hände an die Wangen und merkte, dass sie nass waren. Das Unglück – wessen auch immer – war so stark, dass sie schon wieder zu weinen angefangen hatte.
Geh weg, du Gespenst!, dachte sie verzweifelt. Lass mich in Ruhe!
Aber es ging nicht weg, und sie hielt sich den Kopf und drehte sich hilflos im Kreis. Erst da merkte sie – als ob sie sich mit geschlossenen Augen zur Sonne gewendet und ihre Wärme gespürt hätte –, dass sie angeben konnte, wo die qualvollen Unglücksgedanken herkamen.
Vom Krankenstall.
Lucinda schaute sich um, doch noch immer war niemand zu sehen. Sie ging langsam zum Eingang der großen Betonröhre. Das überwältigende Gefühl fremden Unglücks nahm etwas ab, doch es war weiterhin wie ein starker Wind, der innerlich auf sie einstürmte.
Die Tür zum Krankenstall war offen und mit einem Stein gesichert, damit sie nicht zufiel. Mit klopfendem Herzen steckte Lucinda den Kopf hinein, auf nahezu alles gefasst, doch es war wenig zu sehen. Bis auf die Leibesmasse der langgestreckt schlafenden Meseret, die mit extrem starken Segeltuchbändern am Boden festgebunden war, und etwas Bewegung in einigen der kleineren Gehege und Käfige schien die Halle leer zu sein. Aber wer hatte die Tür aufgelassen? Und wessen qualvolle Gedanken waren in sie eingedrungen? Die des Gespenstes im Bibliotheksspiegel? Oder stand etwas noch Schlimmeres dahinter, irgendein Greuel, der durch GideonsVerwerfungsspalte aus seiner natürlichen zeitlichen und örtlichen Bindung gerissen worden war?
Da ging Meserets großes rotgoldenes Auge auf, als ob eine Wahrsagerin das Tuch über ihrer Kristallkugel gelüftet hätte. Die lange,
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