Die Drachen Der Tinkerfarm
hier angekommen bist. Hattest du Angst?«
Jetzt lachte er richtig, aber es war nicht viel heiterer als das Lächeln vorher. »Ich bin dadurch dem Tode entronnen, und davor konnte man wirklich Angst haben. Hier erwartete mich nichts Schlimmeres als ein unbekannter Ort und eine neue Sprache, die ich lernen musste. Natürlich war mir nicht klar, dass ich damit auch meine Zeit verlassen hatte.«
»Das wusstest du nicht?«
»Natürlich nicht, Kind. Anfangs jedenfalls.« Er wuchtete einen kaputten Käfig auf den Anhänger. »Wie hätte ich darauf kommen können? Es war schon unglaublich genug, dass ich dem drohenden Verhängnis entkommen war. Als ich hierherkam, sah ich zunächst nur, dass ich auf einem Bauernhof war.«
»Ooh, erzähl mir davon!« Lucinda kam einen neuen Eimer Futter holen. »Das würde ich wirklich gerne hören.«
»Wie hat Onkel Gideon sich orientieren können?«, fragte Tyler. »Wirklich mit diesem Kontinuaskop? Wie hat es funktioniert?«
»Diese Kunst ist mir zu hoch – und das Gerät ist ohnehin fort.« Er winkte ab. »Manchmal könnte man meinen, dass alles, was an diesem Ort gut war, entschwunden ist.«
»Was meinst du damit?«, fragte Lucinda. »Diese Farm ist doch sagenhaft!«
Ragnar ließ mehrere der schweren Säcke auf den Boden plumpsen, dass es nur so staubte. »Die Freunde, die ich hier gefunden habe, sagen mir, dass wir Nordländer Schwarzseher sind. Wie dem auch sei, in meinen Augen ist dieses Haus und vielleicht die ganze Magie dieses Hofs verflucht. Jedenfalls scheint das seit der Nacht so zu sein, in der Gideons Frau verschwand.«
»Verschwand?« Lucinda musste an das Zimmer denken, in dem so viele Bilder der dunkelhaarigen Frau hingen, dass es ihr fast wie ein Heiligtum vorgekommen war. »Ich dachte, sie ist tot.«
»So einfach ist das nicht.« Er runzelte die Stirn. »Sie wurde von der Verwerfungsspalte verschlungen.«
Lucinda verschlug es für einen Moment die Sprache. Ihr wurde eiskalt. »Verschlungen …?«
»So nenne ich es. Ich spreche nicht Gideons wissenschaftliche Sprache. Sie ging hinein, und sie kam nicht wieder heraus. Es war von allen Nächten die verhängnisvollste.«
»Wo?«, wollte Tyler wissen. »Wo war sie, als das passiert ist?«
Ragnar warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Ich weiß es nicht. Irgendwo in der Verwerfungsspalte. Es ist die Gabe, diediese Familie besitzt, aber manchmal denke ich, es ist auch ihr Fluch.« Er blickte betroffen auf. »Entschuldigt! O Götter, ich bin ein Narr.«
Lucinda schaute verwundert. »Warum entschuldigst du dich?«
»Weil ich eure Familie verflucht genannt habe.«
Lucinda musste einen Moment überlegen, bevor sie verstand. »Ach ja, richtig. Ich vergesse immer, dass wir mit Gideon verwandt sind.«
»Mit Gideon eigentlich nicht«, sagte Ragnar. »Mit seiner Frau. Und über sie mit Octavio.«
Jetzt war es an Tyler, sich zu wundern. »Und was heißt das?«
»Ihr gehört der Tinkersippe an. Grace war eine Tinker – Octavios Enkelin. Gideon und Grace hatten keine Kinder. Blutsverwandt seid ihr nicht mit Gideon, sondern mit Octavio.«
»Sind wir vielleicht deshalb hier?«, sagte Tyler langsam. »Ich und Lucinda? Weil wir Blutsverwandte des alten Octavio sind?«
Ragnar lud abermals einen Stapel Futtersäcke ab. »Ich weiß nicht, warum er euch hergeholt hat, Junge. Gideon hat viele Gedanken, die er mir nicht mitteilt. Aber ich bin froh, dass ihr beide hier seid. Dadurch ist neues Leben auf den Hof gekommen – und das war dringend nötig.« Er sah beinahe wehmütig drein.
Lucinda hatte plötzlich das Gefühl, Dinge deutlich zu sehen, die sie vorher nur nebelhaft wahrgenommen hatte. »Onkel Gideon hat also in die Familie eingeheiratet.«
»Ja. Es geschah gegen Octavios Willen, wenigstens am Anfang«, sagte Ragnar. »Gideon war bei dem alten Mann angestellt und half ihm, sein Gerät zu bauen, aber dabei verliebte ersich in Octavios Enkelin, die er vom Mädchen zur Frau hatte heranreifen sehen. Es gab einen Riesenkrach, als die beiden heirateten.«
»Octavio war wütend?«
»So heißt es, aber schließlich fand er sich damit ab. Und einige Jahre lang lief alles gut. Dann kam die furchtbare Nacht, in der Grace in der Verwerfungsspalte verschwand und nicht wiederkam. In derselben Nacht starb Octavio Tinker an Herzversagen.«
»O Gott!«, sagte Lucinda. »Wie schrecklich! Wie ist das passiert?«
Ragnar schüttelte den Kopf. »Ich war nicht dabei. Diese Geschichte kann ich nicht erzählen. Ich habe ohnehin schon
Weitere Kostenlose Bücher