Die Drachenflotte (German Edition)
Westküste Madagaskars
D reiundsechzig Meter unter Wasser verliert selbst blendendes Sonnenlicht seine Kraft, und die märchenhafte Farbenpracht des Riffs und seiner Fische verblasst zu einem stumpfen Grau. Jeder Versuch, Helligkeit zu schaffen, wäre hier unten vergeudet gewesen – die Natur verabscheute derartige Verschwendung beinahe ebenso sehr wie Leere. Helligkeit strahlte nur der weiße Sand ab, der einen großen Teil des Meeresgrunds bedeckte. Doch auch sie wurde von totem Seegras und abgestorbenen Korallen getrübt, von verstreut umherliegenden dunklen Steinen, Muscheln und rauen schwarzen Felsbrocken. Und nun auch noch von den Wolken grauen Sediments, die Daniel Knox und die anderen Taucher in den zwei Stunden ihrer Suche hier unten aufgewirbelt hatten.
Er spürte einen leichten Klaps auf seinem Arm und drehte sich um. Miles, sein Chef und Tauchgefährte, hatte aufgehört zu filmen und deutete nach oben. Knox brauchte einen Moment, um zu erkennen, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte: ein großer Fisch, vielleicht zwanzig Meter entfernt, obwohl es unter Wasser schwierig war, Entfernungen genau zu schätzen. Der unverwechselbaren Silhouette und der unheimlichen Geschmeidigkeit seiner Bewegungen nach zu urteilen ein Hai, aber zu weit entfernt, als dass Knox mit Sicherheit hätte sagen können, was für einer. Bullenhaie, Tigerhaie, Makos, Weißspitzen-Hochseehaie und kleine Schwarzspitzen, ja selbst der große Weiße Hai kamen an der Westküste Madagaskars relativ häufig vor, insbesondere rund um diese Riffe, wo es reichlich Nahrung gab und das Wasser durch den fortwährenden Anprall gegen die Korallen stark mit Sauerstoff angereichert war. Aber nicht einer war so gefährlich, wie ihm nachgesagt wurde, solange man die Nerven behielt und sich nicht zu einer Kurzschlusshandlung hinreißen ließ. Genau aus diesem Grund warnten sie einander stets, wenn sie einen bemerkten, damit sich niemand in Panik zu einem überstürzten Aufstieg oder einem anderen Fehler verleiten ließ, falls ihnen eines der gefährlichen Tiere plötzlich nahe kommen sollte.
Mit einem Nicken gab er Miles zu verstehen, dass er den Hai gesehen hatte, und überprüfte seine Ausrüstung. Zuerst griff er an sein Tauchermesser. Es war beruhigend, es bei sich zu wissen, auch wenn es weniger zur Verteidigung gegen einen angreifenden Hai gedacht war als zum Durchschneiden des Wirrwarrs abgeworfener Netze, das in den Riffen so häufig das Durchkommen behinderte. Als Nächstes prüfte er seine Messgeräte. Der Sauerstoff-Partialdruck schien ihm eine Spur zu hoch, und da sein Ersatzgerät den gleichen Wert anzeigte, veränderte er die Zufuhr entsprechend. Hyperoxie war beim Tauchen mit einem Rebreather, einem Kreislaufatemgerät, eine Gefahr, der man leicht zum Opfer fallen konnte, wie er im letzten Jahr vor den Azoren am eigenen Leib erfahren hatte. Aber dieses geringe Risiko wurde mehr als wettgemacht durch die Fähigkeit des Geräts, die verbrauchte Atemluft von Kohlendioxid zu reinigen und frischen Sauerstoff zuzuführen, sodass man beinahe für unbegrenzte Zeit unter Wasser bleiben konnte.
Eine kalte Strömung traf ihn von der Seite. Er ließ sich von ihr erfassen, bevor er sich neu orientierte und seinen Erkundungsgang wieder aufnahm, nicht ohne sich vergewissert zu haben, dass Miles weiterfilmte. Sie sammelten Material für ihren Dokumentarfilm, zugleich ermöglichten die Bilder es der Projektcrew an Bord, ihnen zu folgen. Viel Interessantes hatte es allerdings bisher nicht zu filmen gegeben, obwohl der Wrackhügel so verheißungsvoll aussah, achtzig Meter lang, tief unter Sandmassen begraben, die mit schartigen Felsbrocken, abgestorbenen Korallen und verstreuten Artefakten übersät waren. Er lag am Fuß einer steilen Felsplattform, die sich jäh vom Meeresgrund erhob wie ein gigantisches Unterwasserpodium. Im Lauf der Jahrhunderte hatten Korallen sie in Besitz genommen, die bei Niedrigwasser bis kaum einen halben Meter unter den Wasserspiegel reichten. Der Fels stellte eine ernste Bedrohung dar für die Schiffe früherer Zeiten, die sich beim Navigieren auf ihre ungenauen Karten und groben Berechnungen, auf Gebete und Opfer an die Götter verlassen mussten.
Der Hai hatte einen Bogen geschlagen und glitt jetzt so nahe vorbei, dass Daniel das hässliche Blassgelb seines Bauchs erkennen konnte sowie die dunklen Flecken und Streifen an seinen blaugrauen Flanken. Ein Tigerhai, dreieinhalb bis vier Meter lang. Er wechselte einen Blick mit
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