Die Drachenflotte (German Edition)
Bakterien konnten in dieser Umwelt existieren, und das hieß – beinahe einmalig auf der Welt –, dass jede Chance bestand, dort unten alte Wracks in perfektem Zustand zu finden.
Doch je näher der Tag des Aufbruchs gerückt war, desto deutlicher war ihm der Widerspruch geworden, der seinen privaten Feldzug kennzeichnete. Er hatte Gaille geliebt, weil sie sanft und mitfühlend gewesen war. Sie hätte gewollt, dass er um sie trauerte und dann ins Leben zurückkehrte, anstatt es mit Rache zu vertun. Aber wenn der Zorn das Einzige war, was einem von einem geliebten Menschen geblieben war, fiel es schwer, ihn loszulassen.
Ein bald voller Mond war tief hinter ihm aufgegangen, sein Licht so hell, dass es lange Schatten auf den weißen Sand warf. Nachdenklich blickte er zu ihm hinauf. Es war, als wollte er ihm etwas sagen. Und dann lachte er leise. Natürlich, das war es: Der Mond würde ihm genug Licht spenden, um sich zu Fuß aufzumachen. Er öffnete die Zeltklappe und weckte Thierry, um ihm seinen Entschluss mitzuteilen. Er bezahlte ihn und seinen Bruder und verabschiedete sich von Lucia, dann schulterte er seine Tauchertasche, nahm seinen Reisebag und ging los, den Strand entlang nach Süden.
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Kapitel 15
I
R ebecca war zu müde, sie konnte sich nur noch ausziehen und ins Bett fallen lassen. Aber kaum war sie eingeschlafen, wurde sie vom Krachen eines Fensterladens, der im Wind schwang, und von Gesang wieder geweckt. Wahrscheinlich waren das nur Therese und die anderen, die das Radio laufen ließen, aber es ging ihr trotzdem unter die Haut. Immer wenn an diesem Küstenstrich ein geliebter Mensch gestorben war, tanzten und tranken die Madagassen bis zum frühen Morgen, manchmal nächtelang. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass diese Lieder Adam und Emilia galten.
Als Kind, ohne einen Begriff von Tod, war Rebecca fasziniert gewesen von der fernen Musik dieser Totenwachen, auch deshalb, weil die Fischer danach zu angeschlagen waren, um am nächsten Tag hinauszufahren, und ihr Vater, der leidenschaftlich gern Fleisch aß, dies als Vorwand benutzte, um zu schlachten. Er hatte immer betont, dass man auch bereit sein müsse zu töten, was man essen wollte, und Rebecca hatte lange gefürchtet, dass eines Tages die Reihe an ihr sein würde. Das hatte es nicht leichter gemacht, als es schließlich so weit war. Die Hühner waren ihre Freunde, sie hatte ihnen Namen gegeben. Doch er hatte unerbittlich die Arme verschränkt, und darauf hatte sie ihre Freunde halbherzig um die Lichtung gejagt. Eines der Hühner floh nicht so schnell wie die anderen. Sie hielt es kopfunter, bis es einschlief. Dann legte sie es mit dem Hals auf den Holzklotz und ergriff das Beil. Und da wachte es auf.
Die Leute reden immer vom freien Willen. Wenn es ihn überhaupt gibt, dann in solchen Momenten der Entscheidung. Rebecca hatte hinterher wochenlang Albträume gehabt. Von dem Moment des Zuschlagens. Von dem Huhn, wie es herumrannte, der Kopf nur noch von einem Hautfetzen gehalten, während das Blut in Schüben spritzte. Und doch war sie froh gewesen, dass sie es zu Ende geführt hatte. Der Mut, Schmerz zuzufügen, war auf dieser Welt von unschätzbarem Wert. Emilia fehlte diese Beherztheit. Sie ernährte sich lieber vegetarisch, statt zu töten, Fisch ausgenommen natürlich. Mit Fischen war es leicht. Man warf sie einfach aufs Trockene, wo sie hilflos zappelten, bis –
Elf Jahre. Wie konntest du elf Jahre wegbleiben?
Jetzt bin ich ja hier.
Aber es ist zu spät. Du weißt, dass es zu spät ist.
Sag das nicht, Emilia.
Rebecca drückte eine Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Ihr Schmerz konnte nicht mehr warten, sie musste nach Hause. Sie zog sich an, schrieb Therese ein paar Zeilen und ging los. Auf dem Weg waren es nur zwanzig Minuten bis Eden, aber nachts war es unheimlich und tückisch, deshalb ging sie stattdessen am Strand entlang. Die Dünen leuchteten wie Schnee. Der Sand hier war heilig. Die Einheimischen lasen die Zukunft aus ihm und verstreuten ihn zum Schutz gegen bösen Zauber in ihren Häusern. Sie streifte ihre Sandalen ab und ließ die Füße tief in den trockenen kalten Sand sinken. Blassfarbene Strandkrabben spürten ihr Kommen und schreckten hoch, um zu flüchten, doch ihre Schatten auf dem mondbeschienenen Strand verrieten sie augenblicklich. Dann duckten sie sich und verschwanden wieder, fahl wie der Sand. Wie sollte man an einem Ort wie diesem Erinnerungen entfliehen? Wie
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