Die Drachenflotte (German Edition)
manchen Moskitoarten hängen die Männchen in Schwärmen über den Salzwasserbrutplätzen und stürzen sich auf die Weibchen, noch während sie schlüpfen, um sie zu befruchten, bevor sie sich wehren können. Die Männchen der Heliconius-Schmetterlinge durchlöchern die Larven der Weibchen, um sie mit Gewalt zu begatten. Pierre besaß etwas von dieser Gnadenlosigkeit. Verletzlichkeit erregte ihn. Einen anderen zum Hahnrei zu machen, gefiel ihm.
Ihr Vater hatte das alles gewusst, aber wenn es außer einem selbst nur noch einen einzigen Europäer im weiten Umkreis gab, war Freundschaft die einzige vernünftige Option. Außerdem hatte sich Pierre als nützlich erwiesen. Die Leitung eines Naturschutzgebiets in diesem Land brachte endlose Besprechungen und Beratungen mit den Bürokraten in Antananarivo mit sich, und ohne Schmiergeldzahlungen ging gar nichts. Ihr Vater hatte diese Seite Madagaskars verabscheut, Pierre genoss sie. Und es machte ihm Spaß, bei den niemals endenden Naturschutzkonferenzen in Antananarivo, wie jener, an der er in der vergangenen Woche teilgenommen hatte, Aufsätze vorzustellen, die ihr Vater geschrieben hatte, und bei dieser Gelegenheit leicht zu beeindruckende junge Delegierte mit Geschichten über sein Leben an vorderster Front zu verführen.
«Becca! Becca!» Über eine grasbewachsene Düne näherte sich eine hell gekleidete Madagassin, ein kleines Kind im Arm und ein zweites in einer Schlinge, die um ihren Hals lag. «Becca!», rief sie wieder und winkte wie wild.
Rebecca spähte blinzelnd durch die Dunkelheit. «Therese?»
Natürlich war es Therese. Ob Rebecca ihre alte Freundin so schnell vergessen habe? Ob sie denn so sehr gealtert sei? Bei all ihren vorwurfsvollen Worten strahlte Therese eine solche Freude aus, dass Rebecca warm ums Herz wurde. Therese hatte immer zu ihrem Leben gehört. Sie hatte in ganz jungen Jahren eine solche Leidenschaft für die Medizin und die Krankenpflege bei sich entdeckt, dass sie jeden freien Moment in Eden zugebracht hatte, um Rebeccas Mutter in der Ambulanz zu helfen. Und heute leitete sie sie selbst an den zwei Vormittagen pro Woche, an denen sie geöffnet war, und sprang ein, wenn es Notfälle gab.
«Michel?» Rebecca zeigte auf das Kind in Thereses Arm.
Therese schüttelte scheu den Kopf. «Das ist meine Kleine. Xandra Yvette. Xandra nach Pierres Großmutter, Yvette nach deiner Mutter. Sie immer so gut zu mir.»
«Sie ist ja süß.»
«Ja.» Therese strahlte vor Stolz. Sie zog das Tragetuch auseinander. «Das ist Michel», sagte sie. «Dein Neffe.»
Rebecca nahm ihn auf den Arm. Er war kleiner, als sie erwartet hatte, aber schwerer. Er hatte ein schmales dunkelrotes Mündchen, dunkle, aufgeworfene Nasenlöcher und fest zusammengekniffene Augen. Er sah Emilia so ähnlich, dass Rebeccas Herz flatterte. Sie berührte seine Wange. Die Augen sprangen auf, dunkel und glänzend wie junge Kastanien. Er umfasste ihren Finger und zog ihn zu seinem Mund.
«Er mag dich sehr», stellte Therese begeistert fest.
Rebecca konnte den Blick nicht von ihm wenden. Wie aus dem Nichts überfiel sie die wilde Vorstellung, dass sie ihn mit nach England nehmen und mit ihm als Mittelpunkt ein neues Leben anfangen würde. Aber sofort würgte sie den perfiden Gedanken ab. Sie war hier, um Emilia zu retten, nicht um sie zu begraben.
«Gibt es Neues?», fragte Therese.
«Nichts», sagte Rebecca.
Thereses Gesicht wurde tief bekümmert. «Deine schöne Schwester, so lieb, so jung. Und dein Vater, dieser wunderbare Mann.»
Rebeccas Herz krampfte sich zusammen. «Wir finden sie. Wir holen sie zurück.»
«Ja.» Therese wischte sich die Wangen mit dem Handballen und lächelte gleich wieder strahlend, Sonnenglanz nach schwarzen Wolken. «Ganz bestimmt. Wir holen sie beide zurück, jetzt wo du hier. Aber morgen, ja. Heute Abend du musst essen. Nicht nach Eden fahren. Nichts zu essen in Eden. Alles dunkel und leer. Ja. Zuerst essen, dann schlafen, alles andere morgen. Okay. Ja.» Sie winkte Zanahary, der beim Wagen stand, mit angewinkeltem Finger. «Du auch, kleiner Junge. Komm essen. Komm. Komm.»
Sie schritten die Dünen hinunter zu einem lodernden Feuer, wo drei von Pierres Frauen und neun seiner Kinder zusammen aßen und lachten. Therese lud ihr einen Teller mit weißem Reis und Fischeintopf voll. Das Essen war heiß, scharf gewürzt und schmeckte köstlich. Gleich darauf überfiel sie die Müdigkeit. Sie kämpfte gegen ein Gähnen an.
«Ins Bett jetzt», sagte
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