Die Drachenperle (German Edition)
nicht die Worte des Wulfric in sich bargen. Ah! Endlich! In der vorletzten unbeschrifteten Truhe lagen einige alte Abrechnungen und Inventarlisten , und mittendrin, irrtümlicherweise, Wulfrics Worte. Konradi hielt triumphierend eine von Mäusen angenagte Schriftrolle in seiner Hand. Das musste eine Abschrift einer Abschrift einer Abschrift sein, denn das Original wurde vor ungefähr 580 Jahren geschrieben. Nur noch wenige wussten durch mündliche Überlieferung, dass Wulfric, der Ahnherr der Heilergilde, auch eine prophetische Schau niedergeschrieben hatte. Endlich hielt der erschöpfte Konradi sie in seinen Händen. Noch weniger wussten vom Inhalt dieser kryptischen Vorhersage. Konradi las laut vor:
„In den düsteren Tagen der Verkommenheit, wenn stolze Gier die Gilde regiert - einer wird kommen. Er wird entzweien, was längst getrennt ist, er wird vereinen, was seit jeher eine Einheit war. Erkennt ihn daran: weder Vater noch Mutter er je sah, auch nicht die Blume, die blutige Tränen weint. Erkennen und anerkennen müssen sie ihn oder…“
„Hast du das begriffen, du Ahnungsloser? Die Lilie und die Flammen! Bloß dass es keine Flammen sind, sondern zwei Tropfen Blut! Ich habe es auf seine r Schulter gesehen, er ist es!“
Konradi hatte in seiner Erregung den alten Bibliothekar, der gar nichts verstand, bei den Schultern gepackt und schüttelte ihn gründlich durch. Dann ließ er den armen Mann mit dem angerichteten Chaos allein und rannte so schnell er konnte mit der löchrigen Schriftrolle des Wulfric in Richtung Halle, wo heute die Makelprüfung stattfinden sollte. Er musste unbedingt rechtzeitig kommen. Er konnte sich denken, was hinter dem „oder“ gestanden haben musste, bevor die Mäuse das Papier zernagten. Keuchend und sich die stechende Seite haltend, erreichte er endlich am anderen Ende des Gebäudes die Tür zur Halle und stieß sie auf. Leer! Die Halle war leer! Es war vorbei. Kam er zu spät? Konradi sah die weiße Blüte auf dem Tisch und die zerbrochene Schale aus Alabaster, die mit Schlamm verunreinigt war. Oh ihr Götter! Das durfte nicht sein. Konradi hastete weiter, zertrat unterwegs einen glücklosen Feuersalamander, der nicht schnell genug ausweichen konnte, lief unter den Arkaden entlang, bog mit letzter Kraft um die Ecke und sah die Gruppe endlich auf dem Vorhof stehen.
„Haltet ein! Wartet! Ich habe wichtige Informationen!“
„Still!“ , fauchte Athaja ihn an. Sie deutete auf Ulf, der graugesichtig am Boden lag und mit dem Tod rang. Taiki kniete gebeugt neben dem Ratsherrn und hielt in höchster Konzentration seine linke Hand über dessen Brustkorb. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht vor Anstrengung kreideweiß - Konradi sah, dass ein steter, pulsierender Lichtstrom aus Taikis Handinnenfläche strömte und plötzlich erkannte er mit erschreckender Klarheit was hier geschah! Ulfs Blutfluss im Herzen war gestockt, das umgebende Gewebe abgestorben. Und Taiki… Aber, wie konnte das sein? Taiki behob den Schaden in Ulfs Herzmuskel.
„Aber das ist doch nicht möglich. Nur Meister des elften Grades vermögen dies zu tun , “ flüsterte Konradi.
Rodovan nickte feierlich, zog den Rituswächter beiseite und antwortete leise: „So ist es. Eigentlich ist nur noch die alte Mareika von euch Geistheilern dazu fähig. Aber schau dir das an. Das geht jetzt schon über eine Stunde so. Und Ulf sieht inzwisch en schon besser aus, vorhin glau bten wir, wir hätten ihn verloren. Ist dir klar, was genau das bedeutet?“
Konradi nickte grimmig.
„Ja. Mareika hat ihm schon ihre Macht übertragen. Vor seiner Weihe. Das ist ein Sakrileg.“
Es versammelten sich immer mehr Leute leise um das Zentrum des Geschehens. Gebannt sahen sie jetzt, wie Ulfs Gesicht langsam , aber stetig immer rosiger wurde. Nach einer weiteren Zeit spanne öffnete er seine Auge n leicht und atmete hörbar auf.
Taiki ließ sich erschöpft nach hinten fallen und setzte sich neben Ulf. Nahm dessen kalte Hand in seine warme und drückte sie fest und aufmunternd. „Willkommen zurück , “ sagte er heiser zu Ulf. „Ihr könnt ihn jetzt vorsichtig auf die Trage legen, bringt ihn ins Bett und wacht über ihn. Die Gefahr ist gebannt.“
Mareika, der unablässig Tränen über ihr runzeliges Gesicht liefen, machte sich ungeduldig mit ihrem Stock den Weg frei zu ihrem Urenkel.
„Taiki, ich konnte mit der Inneren Sicht sehen, was du getan hast in seinem Herzmuskel. Du hast nicht nur die Engstellen in seinen
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