Die Drachenschwestern
Alltag bewirkte wahrscheinlich
sein übriges. Sie überlegte kurz, sich noch einmal in ihre Decke zu kuscheln,
verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder und sprang aus dem Bett, wobei sie
fast über Zorro stolperte. Dieser hatte die ganze Nacht neben ihrem Bett
gelegen und schlief immer noch tief und fest. „Wach auf, Faulpelz, du kannst
später weiterschlafen.“ Sie verschwand im kleinen angrenzenden Badezimmer,
wusch sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser, putzte sich die Zähne und
fasste ihre glatten dunklen Haare am Hinterkopf zu einem nachlässigen
Pferdeschwanz zusammen. So kehrte sie ins Zimmer zurück und wühlte in ihrer
Reisetasche, bis sie ihren Jogginganzug fand. Sie zog sich um und gab Zorro mit
einem leisen Pfiff den Befehl zu mitkommen. Während sie auf der Treppe sitzend
ihre Laufschuhe zuband, fiel ihr plötzlich ein, dass sie gestern, als sie von
ihrem nächtlichen Hundespaziergang zurückgekehrt war, ihre Großmutter in der
Küche noch sprechen gehört hatte. War noch Besuch gekommen? Das hätte sie ihr
doch bestimmt gesagt. Naja, vielleicht hab ich mir das auch nur eingebildet,
dachte sie bei sich. Leichtfüssig sprang sie die Treppe hinunter, den Hund im
Schlepptau und trat vors Haus. Tief atmete sie die kühle Morgenluft ein und
streckte sich. Sie schaltete ihren iPod ein und steckte sich die Kopfhörer in
die Ohren. Gutgelaunt fing sie an zu joggen.
Eine gute Stunde später war sie wieder zurück. Sie strich sich die
verschwitzten Haarsträhnen, die sich während des Laufens vorwitzig aus dem Zopf
gelöst hatten, aus dem geröteten Gesicht und machte sich daran, zur Musik von Ulalena,
einem Hawaiianischen Musical, zu stretchen. Die Augen geschlossen, ganz in die
Musik und ihre Übungen vertieft, merkte sie nicht, dass sich ihr jemand von
hinten näherte. Plötzlich spürte sie, wie jemand sie an der Schulter anfasste.
Sie schnellte herum, ihre Hand zur Faust geballt, bereit zuzuschlagen. Im
letzten Moment bremste sie den Schlag ab.
Naja, zumindest ein wenig.
„Wow, Tim, du hier – hast du mich erschreckt!“, rief sie aus und
stürzte zu Tim, der mit schmerzverzehrtem Gesicht am Boden saß und sich die das
Kinn hielt.
„Dein rechter
Haken ist nicht von schlechten Eltern“, stöhnte er.
„Mein linker“, verbesserte Kaja automatisch, „tut mir echt leid, aber
was musst du dich auch so anschleichen!“
„Ich hab mich nicht angeschlichen“, er deutete auf ihre Kopfhörer, die
inzwischen lose um ihren Hals baumelten und aus denen immer noch Musik zu hören
war. „Ich habe dreimal gerufen und gedacht, du hättest mich sicher gehört, ich
habe nicht gesehen, dass du verstopfte Ohren hast.“
„Na ja, wenn du schon wieder Witze reißen kannst, kann es dir ja nicht
zu schlecht gehen.“ Sie streckte eine Hand aus und zog ihn vom Boden hoch. Als
er stand und ihre Hand losließ, kribbelten ihre Handflächen. Was ist denn jetzt
mit mir los, dachte Kaja, das ist ja bloß Tim, Tim den ich schon ewig kenne und
der mich Dreckspatz nennt. Dabei wurde ihr auf einmal bewusst, wie sie aussehen
musste und ihr Gesicht wurde noch eine Spur röter als es sowieso schon war. Ich
wünschte, ich würde nicht immer aussehen, wie durch eine Pfütze gezogen, wenn
ich diesen Mann treffe. Diesen Mann? Herrje, ich brauche wohl dringend eine
kalte Dusche, wenn ich vom kleinen Tim von neben an plötzlich als Mann rede!
Tim seinerseits hatte Kaja unauffällig gemustert. Was er sah, gefiel
ihm ausserordentlich. In ihren Trainingshosen und dem verschwitzten langärmligen
T-Shirt ließ sich eine unzweifelhaft weibliche, aber doch sportliche Figur
erkennen. Ja, der Dreckspatz war erwachsen geworden!
Kajas Stimme unterbrach seine höchst angenehmen Gedankengänge.
„Wollteste du etwas bestimmtes oder nur unschuldige Jungfrauen erschrecken,
Herr Ritter?“, fragte sie und lenkte das Gespräch so ganz bewusst wieder in
ungefährliche Bahnen, indem sie auf die Ritter-und Burgfräuleinspiele ihrer
Kindheit anspielte.
„Äh“, Tim musste sich erst kurz sammeln. „Ich wollte wie jeden Tag
Eier holen, als ich über dich gestolpert bin. Zum Glück, bevor ich die Eier bei
mir hatte“, grinste er. „Das hätte eine schöne Sauerei gegeben. Und dann wollte
ich dich fragen, ob du Lust hast, heute ins Pub zu kommen, ich lade dich auf
ein Bier ein.“ Er schaute sie so erwartungsvoll an, dass Kaja lachen musste.
„Ja klar, können wir machen. Ich muss vorher einfach noch kurz bei Luc
vorbei und schauen, wie es um
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