Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
einer festen Beziehung genießen?«
Ich lachte. »Ein bisschen, ja.«
»Oh Mann, und andersrum ist es sogar noch besser. Du könntest dein Proso-Dings als Entschuldigung dafür nehmen, dass du mit haufenweise Frauen ins Bett gehst, weil du sie eben einfach alle für deine Freundin gehalten hast. Ich würde sagen, es ist an der Zeit, dass du das mal ein bisschen ausnutzt.«
»Okay«, erwiderte ich nicht ganz überzeugt.
»Alles andere wäre ja wohl Verschwendung«, insistierte Tomomi Ishikawa. »Außerdem bist du doch sowieso Single, es würde also nicht mal jemandem wehtun. Bis zum Ende des Jahres musst du mit dreißig Frauen schlafen. Okay?«
»Dreißig kommt mir ganz schön viel vor, aber ich werd’s versuchen.«
»So viel ist das gar nicht. Sieh es doch mal so: Das Jahr hat zweiundfünfzig Wochen, das heißt, wenn du jede Woche mit einer Frau schläfst, bleiben immer noch zweiundzwanzig Wochen übrig, in denen du nicht musst, wenn du keine passende findest.«
»Ich muss überhaupt nichts, Butterfly. Ich schlafe mit niemandem, mit dem ich nicht schlafen will. Und außerdem, warum sollte ich von dreißig Frauen denken, dass sie meine Freundin sind, wenn ich doch sowieso Single bin?«
»Ach, komm schon, Ben Constable. Sei doch nicht so ein Spielverderber.«
»Okay, aber nur, wenn es jedes Mal echte Liebe ist. Allerdings könnte das eine ziemlich traurige Angelegenheit werden. Da hätte ich ja jede Woche ein gebrochenes Herz.«
»Warte, warte, genau! Dann könntest du ein Epos über deinen Herzschmerz schreiben und verkünden, dass du ein tragisches Opfer der Liebe bist (und der Tatsache, dass du die Leute nicht auseinanderhalten kannst), und ich könnte Schwindsucht bekommen und dann ziehen wir beide nach Italien!«
»In Ordnung. Du hast mich überzeugt.«
»Was, im Ernst, du willst es machen? Ha, ich wusste es! Darf ich das rumerzählen?«
Ich blätterte durch mein Notizbuch auf der Suche nach der Seite, die Butterfly über und über mit dem Wort Prosopagnosie bekritzelt hatte, während ich gerade auf der Toilette oder an der Bar oder sonst wo gewesen war. Das Wort füllte die Zeilen, führte dann rund um die Seite am Rand entlang und schließlich wieder kopfüber zwischen die Zeilen.
2½
TOMOMI ISHIKAWAS TEXTE
Ich betrachtete die Ordner Mein Gehirn , Meine Toten , Mein Paris , Mein Kram und Sachen, die ich mag . Wieder schaffte ich es, den verheißungsvolleren Titeln zu widerstehen, und klickte auf Mein Paris . Darin befanden sich ungefähr fünfzig Dateien. Ich öffnete die erste, die den Titel Alles hat seine Zeit trug.
Wenn es um Superlative geht, ist der Bahnhof Saint-Lazare fast ganz vorne mit dabei, aber eben nur fast. Er zählt zu den verkehrsreichsten Bahnhöfen Europas und zu den Stoßzeiten fährt alle dreißig Sekunden ein Zug ein oder ab. Mit hundert Millionen Reisenden pro Jahr ist er der zweitgrößte Bahnhof Frankreichs, außerdem ist er der älteste Bahnhof in Paris, nicht jedoch in ganz Frankreich.
Der Bahnhof wurde im Jahr 1837 als Endstation einer neuen Bahnlinie in Betrieb genommen, die die nahe gelegene Stadt Saint-Germain-en-Laye mit Paris verband. Sein heutiges Aussehen verlieh der Architekt Jules Lisch dem Gebäude 1889, pünktlich zur Weltausstellung in jenem Jahr.
Eine Zeit lang gehörte Claude Monet sozusagen zum Inventar des Bahnhofs. Er war fasziniert von all den Lichteffekten und Dampfwolken.
Vor dem Bahnhofsgebäude befinden sich zwei Plätze: der Cour de Rome und der Cour du Havre. Ersterer wird durch einen eindrucksvollen Metro-Eingang in Form einer gläsernen Muschel dominiert, entworfen von Arte Charpentier Architectes. Auf beiden Plätzen stehen Skulpturen von Armand Pierre Fernandez, der unter dem Pseudonym Arman gewirkt hat und zu den Unterzeichnern der Erklärung des Nouveau Réalisme im Jahr 1960 zählt. Bei Consigne à vie handelt es sich um einen Turm aus waghalsig aufeinandergestapelten Koffern aus Bronze, bei L’heure de tous um eine Ansammlung von Uhren, die alle eine unterschiedliche Zeit anzeigen.
Tomomi Ishikawa sah Paris als eine Reihe von Fakten, Daten und Architekten. Sie hatte ganz offensichtlich eine Menge Zeit damit verbracht, diese Dinge zu recherchieren. Die nächste Datei, die ich anklickte, trug den Titel Arkaden und sah folgendermaßen aus:
In der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Paris etwa hundertfünfzig überdachte Straßen (passages couverts). Diese Nachkommen der großen arabischen Basare und Vorläufer moderner
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