Inés meines Herzens: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Erstes Kapitel
Europa, 1500–1537
Ich bin Inés Suárez, Bürgerin der königstreuen Stadt Santiago de la Nueva Extremadura im Königreich Chile. Wir schreiben das Jahr des Herrn 1580. Wann genau ich geboren wurde, weiß ich nicht, doch sagte meine Mutter, ich sei nach der großen Hungersnot und dem schlimmen Pestausbruch zur Welt gekommen, die Spanien heimsuchten, als Philipp der Schöne starb. Daß der Tod des Königs die Pest brachte, wie die Leute raunten, die den Leichenzug gesehen und noch Tage später einen Geruch nach Bittermandel in der Nase gehabt hatten, glaube ich nicht, aber man weiß ja nie. Königin Johanna, die damals noch jung war und lieblich, reiste mit dem Totenschrein mehr als zwei Jahre landauf, landab durch Kastilien, und manchmal öffnete sie ihn, um die Lippen ihres Gemahls zu küssen, weil sie hoffte, er werde zu neuem Leben erwachen. Trotz der Salben des Leichenbesorgers stank der Schöne. Als ich das Licht der Welt erblickte, war die unglückliche Königin schon restlos ohne Verstand und mit dem Leichnam ihres Gefährten hinter den Mauern des Palasts von Tordesillas verschwunden. Das bedeutet, daß ich mindestens siebzig Winter auf meinen Schultern trage, und ehe es Weihnachten wird, muß ich sterben. Ich könnte behaupten, eine Zigeunerin habe mir am Ufer des Jerte den Tag meines Todes prophezeit, doch das wäre ein Schwindel, wie er in Büchern gedeiht und für bare Münze genommen wird, sobald sie gedruckt sind. Die Zigeunerin verhieß mir nur ein langes Leben, was sie einem immer sagen für ein Geldstück. Es ist mein unstetes Herz, das mir vom nahen Ende spricht. Ich habe immer gewußt, daß ich alt werden und friedlich in meinem Bett sterbenwürde wie alle Frauen meiner Familie. Deshalb bin ich vielen Gefahren ohne Furcht begegnet, denn niemand bricht vor der ihm bestimmten Stunde ins Jenseits auf. »Glaub mir, Herrin, du stirbst als altes Frauchen«, beschwichtigte mich Catalina in ihrem warmen peruanischen Singsang, wenn der Galopp scheuender Pferde, den ich in der Brust spürte, mich zu Boden warf. Ich weiß nicht mehr, wie Catalinas Name in ihrer Quechuasprache war, und nun ist es zu spät, sie danach zu fragen – viele Jahre ist es her, daß ich sie in meinem Hof begrub –, aber ihre Weissagungen sind wahrhaftig und zutreffend gewesen, dessen bin ich gewiß. Catalina trat in der alten Stadt Cuzco, der Perle der Inkas, in meine Dienste, als Francisco Pizarro dort herrschte, dieser unerschrockene Bastard, der, wenn man den losen Zungen glauben will, in Spanien einst Schweine hütete, und der, zum Marqués geadelt, als Gouverneur von Peru schließlich vom eigenen Ehrgeiz und vielfachen Verrat vernichtet wurde. So geht es zu in den Neuen Indien, dieser Welt, in der die Gesetze des Althergebrachten nicht gelten und alles ein Drunter und Drüber ist: Heilige und Sünder, Weiße, Schwarze, Braune, Indios, Mischlinge, Edle und Gesinde. Jeder kann sich in Ketten finden, gebrandmarkt von glühenden Eisen, und schon am nächsten Tag hebt ihn das Glück in einem Handstreich empor. Über vierzig Jahre lebe ich nun schon in der Neuen Welt und kann mich an die Unordnung noch immer nicht gewöhnen, obwohl ich doch selbst von ihr profitierte. Wäre ich in meinem Heimatort geblieben, ich wäre heute eine arme alte Frau und blind vom vielen Stikken im Kerzenschein. Dort wäre ich Inés, die Näherin aus der Calle del Acueducto. Hier bin ich Doña Inés Suárez, eine Dame von vornehmstem Rang, Witwe des ehrwürdigen Gouverneurs Don Rodrigo de Quiroga, Konquistadora und Gründerin des Königreichs Chile.
Siebzig Jahre habe ich also mindestens gelebt, ich habe das Leben ausgeschöpft, ich weiß, aber meine Seele undmein Herz, die noch im Zutrauen der Jugend befangen sind, fragen sich dennoch, was um alles in der Welt mit meinem Körper geschehen ist. Wenn ich mich in dem silbernen Spiegel betrachte, Rodrigos erstem Geschenk nach unserer Hochzeit, erkenne ich diese alte, von weißem Haar umkränzte Frau nicht, die zurückschaut. Wer ist die? Wie kommt sie dazu, die wahre Inés zu verspotten? Ich betrachte sie aus der Nähe, weil ich hoffe, auf dem Grund des Spiegels das Mädchen mit den Zöpfen und den aufgeschrammten Knien zu finden, das ich einst war, die junge Frau, die sich für ein heimliches Stelldichein in die Obstgärten davonstahl, die reife und leidenschaftliche Frau, die in den Armen von Rodrigo de Quiroga schlief. Sie kauern dort, sind da, ich weiß es, doch vermag ich sie nicht zu
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