Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
ich ihn an. Schnippte vor seinen offenen Augen mit den Fingern und er blinzelte. Ich setzte mich auf und drehte mich zu ihm um, hockte mich auf die Fersen wie eine Geisha. Ich griff nach einem Kissen und er ließ mich nicht aus den Augen, doch seine Miene blieb ausdruckslos. Ich drückte ihm das Kissen aufs Gesicht, erst sanft, dann fester, presste ihm den Stoff mit ruhigen Händen auf Mund und Nase. Er rührte sich nicht, versuchte nicht einmal, sich zu wehren, er lag einfach reglos da und ließ zu, dass ich ihn erstickte. Ich lehnte mich auf ihn, bis mein gesamtes Gewicht auf dem Kissen über seinem Gesicht lastete. Minuten vergingen. Schwärze schoss durch meine Adern und hinter meinen Augenlidern explodierte herrliche Dunkelheit und erfüllte mich mit ihrer tröstlichen Wärme.
Dies ist das letzte Mal, dass ich so etwas tue, dachte ich bei mir. Jeder bekam, was er sich wünschte.
Er dachte daran, wie er als Kind Verstecken gespielt hatte. Er war noch klein genug gewesen, um in den Wäscheschrank im Haus seiner Großmutter zu passen. Er liebte den Geruch der trockenen Baumwolle und rollte sich darauf zusammen, wie die Katze es immer tat – manchmal lag sie den ganzen Tag dort, rundum zufrieden auf dem Stapel sauberer Laken und Handtücher. Wenn seine Großmutter dann den Schrank öffnete, hob das Tier bloß eine Augenbraue und huschte davon, bevor es jemand beim Nackenfell packen oder auch nur Kschh! sagen konnte. Ja, er war wie die Katze im Wäscheschrank. Es war ein gutes Versteck. Es roch so gut. Er schloss die Augen.
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T OMOMI I SHIKAWAS P ARIS
Tomomi Ishikawa und ich hatten oft übers Bücherschreiben geredet. Stundenlang diskutierten wir über Handlungsstränge, Erzählstruktur, Stilebenen, Tempo und Perspektiven, bis spät in den feuchtfröhlichen Abend hinein. Doch dabei war es immer um mich gegangen, meine Freude und meine Zweifel über das zu Papier Gebrachte, nicht ihre. Die Möglichkeit, dass auch sie eine heimliche Schriftstellerin war, hatte ich nie in Betracht gezogen. Ich hätte es aus ihren E-Mails schließen, aus ihrer Syntax herauslesen können. Ich fühlte mich unbehaglich angesichts des Gedankens, dass sie es offenbar nie für notwendig gehalten hatte, darüber zu reden. Der Rhythmus ihrer Worte hallte in meinem Kopf wider und meine Gedanken überschlugen sich.
Hatte Butterfly diesen Mann getötet? Sollte ihr Text mir das vermitteln? War er ein Tatsachenbericht darüber, was sie am 11. September 2001 getan hatte, oder bloß ein Fantasiegespinst, in dem die Ereignisse ineinanderliefen und der Tod durch die zarte Schicht, die Wahrheit und Fiktion voneinander trennt, in die Gedanken sickerte? Hatte Tomomi Ishikawa einen Mord begangen? Das schien eine wichtige Frage zu sein, dennoch trieb sie bereits stromabwärts, um in der Kategorie ungelöste Merkwürdigkeiten abgelegt zu werden, während mein Geist sich längst anderen Dingen zuwandte.
Auf den Hinweis, der mich zu dem Notizbuch mit dem Mord an einem Fremden geführt hatte, war ich in ihrem Text über Saint-Lazare gestoßen. Und auch der Regenspaziergang durch die Arkaden hatte seinen Ursprung in ihrem Mein Paris -Ordner gehabt. Vielleicht befanden sich ja alle Hinweise für ihre Schatzsuche auf ihrem Computer. Das erschien mir beinahe enttäuschend einfach, doch nun war wohl der Moment gekommen, auch den Rest dessen, was sie über Paris geschrieben hatte, zu lesen.
Also klickte ich mich durch die Dateien, in denen Butterfly über Straßen, Architekten und Künstler schrieb. Sie kannte Bars, die von berühmten Dichtern besucht worden waren, und frühere Behausungen von Schriftstellern, die mir nichts sagten. Sie hatte eine wahre Enzyklopädie an Pariswissen zusammengetragen, schilderte kuriose Begebenheiten und verborgene Schlupfwinkel, Farben und Gerüche und die Art, wie das Nachmittagslicht die Straßen erfüllte. Hatte sie einen Reiseführer verfassen wollen? Oder eher eine Lehrschrift für mich, der ich zugegebenermaßen so gut wie nichts über die Stadt weiß, in der ich lebe, und wie blind durch die Straßen schlurfe, ohne mich dabei um viel mehr als meine eigenen Gedanken zu kümmern?
Und jetzt wollte ich mit ihr reden. Ich wollte ihre Stimme Fakten herunterleiern hören, die zum einen Ohr hinein- und Sekunden später vollkommen mühelos zum anderen wieder hinausgingen, sodass nur die Erinnerung an ihren Klang zurückblieb.
Belleville/Ménilmontant
Belleville ist ein ehemaliges Arbeiterviertel im Pariser Osten, das zudem
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