Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
Vom Netzwerk:
erreichten wir den Union Square. Hunderte von Leuten mit Kerzen in den Händen hatten sich dort versammelt.
    »Lassen Sie uns hier weggehen«, sagte ich, als sich plötzlich Übelkeit in meinem Magen ausbreitete. Bringen Sie mich irgendwo anders hin , bedeutete ich ihm mit Gesten. Ich komme mit, wohin Sie wollen. Ich zählte nicht die Blocks, die wir hinter uns ließen, ich wusste nicht mal mehr, in welche Himmelsrichtung wir uns bewegten, als wir schließlich ein Gebäude betraten und uns stur geradeaus starrend in einem Aufzug wiederfanden. Er holte einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete eine Wohnungstür. Das Apartment war weitläufig und die Einrichtung modern, bis ins Detail durchdacht, sehr ordentlich; eine typische Männerwohnung.
    »Leben Sie allein?«
    »Ja.« Er ging an einen Schrank und ließ sich dann mit einer Flasche Whisky und zwei Gläsern auf die Couch fallen.
    »Kann ich mal ins Bad?«, fragte ich und er zeigte auf eine Tür, bevor er wieder auf den Tisch und den Whisky starrte.
    Als ich zurückkam, stand er am Fenster und sah über die Dächer der benachbarten Gebäude zum East River hinüber. Er hatte sich ein großzügiges Glas eingeschenkt und auf dem Tisch stand ein weiteres, das ebenso gut gefüllt war. Ich nahm es und trat, nicht zu nah, neben ihn. Wir waren ziemlich weit oben.
    »Als das zweite Flugzeug einschlug, stand ich zusammen mit den anderen Leuten aus meinem Gebäude auf dem Dach und wir haben zugesehen«, sagte ich, halb, um es mir von der Seele zu reden, und halb, um Small Talk zu machen. »Ich sah mich um und erkannte, dass die Menschen auf den anderen Dächern dasselbe machten. Um mich herum haben alle bloß immer wieder ›Mein Gott‹ geflüstert.«
    Er ließ sich wieder aufs Sofa sinken. Ich blieb am Fenster stehen.
    »Ich war mit meiner Exfrau im Nordturm verabredet. Sie wollte mir einen Auftrag bei einem ihrer Kunden vermitteln. Der Termin war für neun angesetzt, aber ich war ziemlich früh dran und habe sie angerufen, um ihr zu sagen, dass wir noch einen Kaffee trinken könnten. Und dann bin ich zehn Minuten um den Block gekurvt, um einen Parkplatz zu finden, bis ich es irgendwann aufgegeben habe und zu einem Parkhaus in der John Street gefahren bin. Als ich rauskam, heulten überall Sirenen und die Polizei hatte die Straßen abgesperrt. Ich habe noch versucht, sie zu erreichen, aber mein Handy hatte keinen Empfang. Ich stand da, bis der erste Turm einstürzte, und dann bin ich zusammen mit allen anderen bloß noch gerannt. Zurück zu meinem Auto konnte ich nicht und jetzt weiß ich nicht mal mehr, auf welcher Ebene ich geparkt habe.«
    »Haben Sie inzwischen etwas von ihr gehört?«
    »Sie ist wahrscheinlich tot.«
    Es war wie eine Szene aus einem modernen Theaterstück. Er kam zurück zum Fenster und diesmal stellte er sich dichter neben mich. Ich wich nicht vor ihm zurück.
    »Eben beim Herumlaufen ist es mir dann auf einmal schlagartig klar geworden.«
    »Was?«, fragte ich.
    »Soweit ich mich zurückerinnern kann, habe ich immer all meine Energie dafür aufgewendet, mir ein Leben aufzubauen, mein Leben zu verändern, noch mal von vorne anzufangen, eine neue Seite aufzuschlagen. Ich habe die ganze Zeit auf ein einziges, unbestimmtes Ziel hingearbeitet. Versucht, meine Träume zu verwirklichen.«
    »Ja.«
    »Ich glaube nicht, dass ich damit jetzt noch weitermachen kann. Dazu fehlt mir einfach die Kraft.«
    »Ich weiß, was Sie meinen. Heute erscheint einem irgendwie alles viel klarer.«
    Er wollte so gern glauben, dass ich ihn verstand, und vielleicht war es ja auch so.
    Keine Ahnung, wie wir zusammen im Bett landeten. Anders als bei einem Schachspiel kann ich mich nicht an die einzelnen Schritte erinnern, die dazu führten: Hand des Mannes auf Hüfte der Frau. Hand der Frau nimmt Hand des Mannes. Schach. Ich würde mir gern einreden, dass er es war, der die Initiative ergriff, aber ich habe es ihm wohl auch nicht besonders schwer gemacht, vielleicht ging das Ganze sogar doch von mir aus. Und plötzlich frage ich mich, ob das überhaupt wichtig ist. Damals hätte ich das vielleicht verneint, aber inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher.
    Es war keine besonders leidenschaftliche Angelegenheit. Lustlos – im wahrsten Sinne des Wortes – vom Körper geschälte Kleider. Keine großen Emotionen oder explosive Orgasmen, nur langsamer, rhythmischer Sex, nüchtern und der Situation vollkommen angemessen. Hinterher lagen wir da und starrten an die Decke. Dann sah

Weitere Kostenlose Bücher