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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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hinterherrufen müssen und er hätte im Dämmerlicht mein Gesicht nicht mehr erkennen können. Außerdem wusste ich sowieso nicht, was ic h hätte sage n sollen. Also stand ich auf und folgte ihm in einigem Abstand.
    Mittlerweile war es vollkommen dunkel geworden und der Boden im Schatten der Bäume war mit dem orangefarbenen Licht der Straßenlaternen gesprenkelt. Hin und wieder erhaschte ich einen Blick auf den abnehmenden Halbmond. Leicht schlurfend, um nicht zu stolpern oder von einer unerwarteten Stufe überrascht zu werden, ging ich weiter. Wir erreichten die Houston Street, überquerten sie, liefen weiter durch die Clinton Street, über die Delancey, und immer weiter nach Süden. Nach einer kleinen Abkürzung zwischen Bäumen und Gebäuden hindurch landeten wir schließlich auf dem East Broadway. Der Mann wurde nie langsamer und drehte sich kein einziges Mal um. Ich versuchte, meine Schritte möglichst wenig bedrohlich klingen zu lassen. Wir hielten geradewegs auf die Hochhaussiedlungen am East River zu, doch ich zögerte keine Sekunde (obwohl ich den Abstand zu ihm ein wenig verringerte, um mich sicherer zu fühlen). Mal bog er rechts ab, mal links, verschwand und kam wieder in Sicht, während ich ihm um jede einzelne Ecke folgte. Hin und wieder warf ich einen Blick über meine Schulter, um mich zu vergewissern, wo der Fluss war, und nicht die Orientierung zu verlieren. Er lief im Kreis. Ich bog um die Ecke eines der braunen Hochhaustürme und er war nicht mehr da. Verschwunden. Ich ließ mir nichts anmerken und wurde nicht langsamer, sondern marschierte schnurstracks weiter auf die Manhattan Bridge zu, die nun vor mir aufragte.
    »Warum verfolgen Sie mich?«, flüsterte er und ich zuckte zusammen. Er stand kaum mehr als einen Meter von mir entfernt in einem Hauseingang und schaute mich ruhig und neugierig an.
    »Was?«
    »Sie verfolgen mich schon seit dem Tompkins Square. Was wollen Sie?«
    »Nichts«, erwiderte ich und lief weiter auf die Brücke zu.
    Einen Moment lang schien er verunsichert, so als fragte er sich, ob das vielleicht tatsächlich alles war. Im Weitergehen spürte ich seinen Blick im Rücken. Nach ungefähr fünfzehn Metern rief er: »Warten Sie«, und ich blieb stehen und drehte mich um, während er mit vorgetäuschter Ruhe zu mir aufschloss und in respektvollem Abstand vor mir stehen blieb.
    »Warum laufen Sie ganz allein in dieser Gegend herum?«, wollte er wissen.
    »Aus demselben Grund wie Sie«, entgegnete ich und er sah kurz auf, verwirrt, dass ich seine Gründe zu kennen meinte.
    »Und wo wollen Sie jetzt hin?«
    »Ich weiß noch nicht.«
    Schweigen breitete sich zwischen uns aus und ich verspürte plötzlich ein Gefühl von Macht. Ich drehte mich um und ging ein paar Schritte, dann blieb ich wieder stehen und sah zu ihm zurück. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
    »Kommen Sie nun oder nicht?«
    Er lächelte, hüpfte regelrecht auf mich zu und wir liefen weiter, aber jetzt war ich diejenige, die den Weg bestimmte, und er derjenige, der an jeder Kreuzung stehen blieb, um zu sehen, für welche Richtung ich mich entschied, ohne jemals einen Vorschlag zu äußern.
    Wir liefen bis zur City Hall und schlugen dann den Weg zur Brooklyn Bridge ein. Die Stadt im Rücken schlenderten wir nebeneinanderher wie ein Liebespaar bei einem romantischen Abendspaziergang. Keiner von uns sagte etwas oder wandte den Kopf, um zurück nach Manhattan zu sehen, bis wir in der Mitte zwischen den turmartigen Brückenpfeilern angekommen waren. Dort blieben wir stehen, lehnten uns an das Eisengeländer und starrten hinüber. Wir sahen die riesige Staubwolke, die langsam in den Himmel aufstieg. Die Brücke fühlte sich nicht sicher an; wahrscheinlich empfand das jeder so. Trotzdem huschten hin und wieder schweigende Gestalten an uns vorbei; ein paar blieben stehen, um zu beten, andere machten Fotos. Wir liefen bis zur Fulton Street Mall, doch Manhattan schien uns zu sich zu rufen und so beschrieben wir einen weiten Bogen, indem wir die Jay Street zur Manhattan Bridge mit ihrem vergitterten Fußgängerweg nahmen, und erreichten schließlich fast wieder die Straße mit dem Hauseingang, in dem der Mann auf mich gewartet hatte.
    Ohne zu reden, wanderten wir durch die Straßen, bogen links und rechts ab, kamen an Betrunkenen vorbei und an einer Gruppe von Männern, in der gerade eine Prügelei geschlichtet wurde. So langsam taten mir die Füße weh. Ich war stundenlang ununterbrochen gelaufen. Irgendwann

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