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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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könnte der Tag gewesen sein, als ich geboren wurde, oder der, als ich meinen ersten Zahn verlor. Vielleicht war es auch der Tag, als ich mir das Herz brach. (Wie dir vielleicht auffällt, suche ich die Schuld an diesem barbarischen Akt bei niemand anderem; ich war ganz allein dafür verantwortlich, weil ich wissen wollte, wie es sich anfühlen würde. Zu meiner Verblüffung wurde mir dabei klar, dass ich das Gefühl längst kannte und mein Herz schon Hunderte Male zuvor gebrochen worden war.) Vielleicht war es der Tag, als Daddy starb, oder der, als meine beste Freundin (die zugleich mein Kindermädchen war) starb. Vielleicht war es auch der Tag, als ich meine Jungfräulichkeit verlor, oder einer der wer weiß wie vielen anderen tausend möglichen Kandidaten. Jedenfalls war ich an jenem Tag, an dem diese Geschichte spielt, schon lange tot. Mein Körper war nichts als eine leere Hülle, während ich beobachtete, wie die Zehntausenden oder vielleicht sogar Millionen flackernden Lichter der Stadt ausgelöscht wurden und den Menschen die Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz vor Augen geführt wurde, während sie langsam begriffen, dass sie niemals die Welt verändern würden und sich selbst ihre größten Hoffnungen zerschlagen konnten, alles, wovon sie je geträumt, woran sie geglaubt hatten, zerquetscht wie ein unwillkommenes Insekt, weil das Leben in dieser Stadt keinen Wert hat. Das konnte es nicht, denn sonst wäre der Verlust einfach zu schmerzvoll gewesen und niemand mag Schmerz.
    Und die Asche der Toten rieselte auf uns nieder wie Schnee. Der Tod bedeckte die Bürgersteige und Straßen, wallte mit der warmen Luft den Broadway hinauf und bettete sich auf die Fenstersimse in den Wohngebieten der Upper West Side, legte sich als dicke Staubschicht auf Autodächer und unser Haar, während wir ziellos durch die Straßen wanderten und als Zuschauer, Voyeure, einen Blick auf Zweifel und Unverständnis in den Gesichtern der Leute zu erhaschen versuchten, die uns begegneten.
    Noch während ich diese Zeilen schreibe, wird mir die Sinnlosigkeit meines Tuns bewusst. Als könnte ich mir, indem ich dies zu Papier bringe, Erleichterung verschaffen oder eine Spur jener Menschlichkeit in mir finden, von der ich schon seit jeher bezweifle, dass ich sie überhaupt besitze. Diese Seiten bringen mir keine Erlösung, sie sind nur ein düsterer Bericht über einen seltsam aufschlussreichen Tag. Vielleicht haben wir an diesem Tag die Rechtfertigung dafür gefunden, dass wir so verkorkst sind, wie wir sind, nach der wir unser Leben (oder Nicht-Leben) lang gesucht haben. Jetzt hatten wir endlich eine Entschuldigung dafür. Von diesem Trauma würden wir uns nie erholen und das war völlig akzeptabel; die Wahrheit jedoch war viel finsterer, denn in Wahrheit hatten wir von Anfang an nicht vorgehabt, uns jemals davon zu erholen.
    Am späten Nachmittag hielt ich es zu Hause nicht mehr aus und ging nach draußen, wo ich Fußspuren im Staub auf der Straße hinterließ. Ich lief ein Stück am Hudson entlang Richtung Norden, in der Hoffnung, dort eine Welt zu finden, wo das Leben weiterging, doch es gab kein Entrinnen vor den verstörten Gesichtern der Menschen, die über die Bürgersteige dieser Geisterstadt stolperten. Ich beneidete die Toten, die über meinen Kopf hinweggeweht wurden. Ich beschloss, zurück in die Innenstadt zu laufen und meine Neugier zu befriedigen. Zu nahe am Wasser fühlte ich mich ungeschützt, also ging ich weiter stadteinwärts und machte mich im Zickzack auf den Weg nach Osten.
    Als ich den Tompkins Square Park erreichte, verwässerte die Dämmerung alle Farben und die Welt wurde matt. Nahe der Avenue B setzte ich mich auf eine Bank und starrte ins Nichts, bis mit großen Schritten ein Mann vorbeimarschiert kam. Er passte nicht so recht in dieses New York. Irgendetwas schien mit ihm nicht zu stimmen, so als stammte er aus einer anderen Zeit. Normalerweise hätte ich mich gar nicht um ihn geschert (bloß ein weiterer Geist, der an mir vorüberglitt), denn ich war ja nur auf der Suche nach ein bisschen Ablenkung, doch als er auf gleicher Höhe war, hob er plötzlich den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Es wirkte, als sei er nur unterwegs, um sich von der Stelle zu bewegen. Ich hätte gern etwas zu ihm gesagt, ihm ein Zeichen meiner Verbundenheit gegeben, ein verständnisvolles Nicken, aber als ich schließlich genug Mut gesammelt hatte, um den Mund aufzumachen, war er längst an mir vorbeigegangen. Ich hätte ihm

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