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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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reagieren?
    »Ich liebe dich.« Plötzlich war sie wieder ganz klein und weinte.
    Ich zwang mich dazu, irgendetwas zu empfinden, und spannte den Arm an, sodass ihre Hand an der Stelle, wo sie in meiner Armbeuge lag, ein bisschen gedrückt wurde. »Du kannst dir doch später immer noch das Leben nehmen. Warte noch ein bisschen damit, okay? Die meiste Zeit über bist du ja nett und dann mag ich dich auch. Es gibt noch so viel, worüber wir reden müssen. Wir könnten noch ewig so weitermachen. Du solltest dich noch nicht umbringen.«
    »Mir geht’s nicht gut, Ben Constable, und ich glaube, ich bin ein bisschen betrunken.«
    »Habe ich gemerkt. Aber falls es dich tröstet, ich bin auch betrunken.«
    »Morgen früh denken wir nicht mehr daran, okay?«
    »Wenn du willst.«
    »Ich will, dass wir es vergessen.«
    Und das hätte ich auch fast.
    Ich druckte alles aus, was ich seit Tomomi Ishikawas Tod auf ihrem Laptop gefunden hatte, und breitete die Seiten zusammen mit den Notizbüchern vor mir auf dem Boden aus, um mir einen Überblick zu verschaffen. Es musste noch andere Hinweise geben, denen ich bisher nicht gefolgt war. Sicher gab es noch mehr zu finden. Ich würde den Mein Paris -Ordner methodischer durchgehen und alles lesen, um herauszufinden, wo ich als Nächstes suchen sollte. Und da war ja auch noch diese Pflanze in der Metro. Das war mehr als ein subtiler Hinweis gewesen: Butterfly hatte mich explizit aufgefordert, ein Foto davon zu machen. Ich hätte mich längst darum kümmern sollen.
    Ich fuhr mit dem Bus zum Parc des Buttes-Chaumont und sah geduldig aus dem Fenster, während wir im Stadtverkehr alle paar Meter anhielten und wieder anfuhren und dann auch nur im Schritttempo vorankamen. Am Südende des Parks stieg ich aus und fühlte mich, statt mich auf den Weg zur Metrostation zu machen, von den Bäumen und künstlichen Hügeln jenseits des Tors magisch angezogen, so als wollte ich mich vor einer besonders schwierigen oder furchteinflößenden Aufgabe drücken (obwohl sie keins von beidem war). Irgendjemand hatte mir mal erzählt, dass der Park früher ein Steinbruch gewesen war und eine ziemlich finstere Vergangenheit hatte. Ich weiß nicht mehr, ob er einmal Schauplatz eines Massakers oder einer Massenhinrichtung gewesen war oder so etwas in der Art. Heute jedenfalls war er der am aufwendigsten gestaltete Landschaftspark von ganz Paris und in den Augen mancher auch der schönste.
    Irgendwann hatte ich keinen Vorwand mehr, länger dort herumzustehen. Ich ging die Treppe in die Metrostation hinunter und fuhr mit dem Aufzug bis auf den Bahnsteig.
    Ich holte meine Kamera aus der Tasche und machte ein paar Probeaufnahmen, um zu sehen, ob das Licht ausreichte. Jetzt im Sommer war es hier unten gespenstisch still und die Station wurde nur von vereinzelten Touristen am Leben gehalten, die zu faul waren, von Jaurès aus zu laufen. Als die Bahn kam, waren ziemlich viele Sitzplätze frei, trotzdem blieb ich an der Tür stehen. Ich beobachtete die Lichter, die am Fenster vorbeihuschten, und hielt Ausschau nach einem Schimmer von Grün. Ich versuchte, nicht zu blinzeln, damit ich den Moment nicht verpasste. Vielleicht war da ja auch gar nichts; gut möglich, dass das Ganze mal wieder bloß Tomomi Ishikawas lebhafter Fantasie entsprungen war. Der Tunnel auf dieser Strecke ist ziemlich breit und kam mir an diesem Tag dunkler vor, als ich es von den anderen Linien in Erinnerung zu haben meinte. Mir gefiel, wie sich die Beschaffenheit der Wand ständig änderte. Am liebsten wäre ich den Weg zu Fuß gelaufen und hätte jede winzige Öffnung, jede dunkle Nische erkundet. Die Bahn gab ein Knarzen von sich, als die Schienen eine Rechtskurve beschrieben, und durchs Fenster sah ich, wie sich die anderen Waggons hinter uns herschlängelten. Aus dem Augenwinkel, nur ein kleines Stück von mir entfernt, erhaschte ich einen Blick auf etwas Grünes, dann war es wieder weg.
    In der Metro auf der Linie 7bis zwischen Buttes-Chaumont und Bolivar wächst eine Pflanze; ich habe sie gesehen, sie sitzt direkt unter einer waagerechten Leuchtstoffröhre, ein Schimmer von Grün in der Dunkelheit. Wir erreichten Bolivar und ich rannte auf den Gegenbahnsteig, um die gleiche Strecke zurückzufahren.
    Das Foto, das ich machte, war verschwommen. Zu stark verschwommen. Auf dem Display der Kamera suchte ich das Bild nach irgendeiner Spur von Grün ab, doch außer einem hellen waagerechten Streifen vor einem dunkelbräunlichen Hintergrund war nichts

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