Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
übersät. Er aß nicht mehr und trank, soweit ich das beurteilen konnte, nur noch Kaffee und Whisky. »Ich bin ganz nah dran, Butterfly«, sagte er zu mir. »Ganz nah.«
Am letzten Tag ging ich nach der Arbeit zu seiner Wohnung. Die Tür stand offen (für mich, nahm ich an) und ich ging hinein. Ich konnte ihn im Badezimmer vor sich hin murmeln hören. Ich rief nach ihm, aber er antwortete nicht, also zündete ich mir eine Zigarette an und spielte geistesabwesend mit einer leeren Papiertüte, die auf dem Tisch lag. Sie war aus einer Drogerie. Ich zerriss das Papier, weil mir das Geräusch gefiel, und fand schließlich einen Kassenbon. Super Platinum Rasierklingen, zweischneidig, 10 Stück, $ 4,96. Adrenalin schoss durch meinen Körper, ich sprang auf und drückte die Klinke zum Badezimmer hinunter.
Die Tür ging auf und dort lag Jay nackt in der vollen Wanne. Eine seiner Hände hing über den Rand und hielt eine Whiskyflasche umklammert. Seine Arme waren übersät mit Zigarettenbrandwunden und der Rest seines Körpers mit selbstzugefügten blauen Flecken. Doch trotz all meines Entsetzens und meiner Verwirrung wirkte er auf mich wie ein Heiliger. Er stand kurz vor der Erfüllung. Neben einem einsamen Stück Seife lag das neue Päckchen altmodischer Rasierklingen auf dem Badewannenrand. Jay folgte meinem Blick und sagte: »Das ist das Ende, Butterfly. Das ist das Ende.«
»Wofür? Deinen Bart?« Der Witz überraschte mich selbst.
»Haha. Nein, das ist das Ende, Butterfly.«
Ich schwieg einen Moment. »Vielleicht hast du recht.«
»Ich weiß, dass ich recht habe.«
»Aber nicht mit den Rasierklingen da.«
»Wieso nicht?«
Ich holte meine Tasche aus der Küche und wickelte vorsichtig das rituelle Messer aus seiner Seidenhülle. Es steckte in einer hölzernen Scheide mit Intarsien aus hellerem Holz, Gold und Perlmutt. Mein Herz begann vor Angst und Aufregung zu hämmern. Ich legte das Messer auf meine ausgestreckten Hände und neigte den Kopf. Die feuchte Luft schien einen ehrfürchtigen Seufzer auszustoßen.
»Danke, Butterfly. Tausend Dank dafür.« Jay streckte die Hand nach dem Messer aus, doch er zitterte so stark, dass er es nicht halten konnte.
»Warte«, sagte ich. Ich war mit einer kleinen Packung Beruhigungstabletten ausgerüstet hier aufgetaucht. Ich nahm vier Stück heraus und steckte sie ihm in den Mund, dann half ich ihm, den Arm mit der Whiskyflasche zu heben, um die Tabletten hinunterzuspülen. An dieser Stelle hätte ich gehen sollen, aber ich konnte nicht. Wir saßen da und warteten und er wurde langsam ruhiger, während mein eigener Atem schnell und stoßweise ging. Jeder Zentimeter meines Körpers stand unter Spannung.
»Könntest du mir eine Zigarette anzünden, Butterfly?«
»Klar.« Ich gab ihm Feuer und er hielt sich die Zigarette an den Mund, sog den Rauch ein und drehte dann den Kopf weg, um ihn wieder auszublasen. Als er fertig war, reichte ich ihm abermals das Messer. Er umklammerte es und versuchte, es aus der Scheide zu ziehen, doch seine Finger waren zu schwach und zitterten noch immer. Ich nahm es ihm aus der Hand und bei dem Geräusch, mit dem es aus der Holzhülle glitt, wurde mir kurz schwindelig. Mein Kopf war leer und die Stille, die im Takt meines Herzens pulsierte, ohrenbetäubend. Ich schloss seine Finger um den Griff des Messers und richtete die Spitze der Klinge auf seinen Bauch.
»Vielleicht ist es einfacher, wenn du dich aufsetzt.« Meine Stimme versagte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Irgendetwas Neues ergriff von mir Besitz.
»Nein, nicht in den Bauch, Butterfly. Bitte. Das ist zu brutal. Ich bin doch kein verfluchter Samurai. Die Arme. Nimm meine Arme; denen machen Schnitte nichts aus.«
»Du solltest es lieber selbst machen, nicht ich.«
»Hast du noch mehr von diesen Pillen?«
»Ja, aber zu viele darfst du davon nicht nehmen. Die hauen dich nur um.« Warum war ich nicht längst weg?
»Ach, komm schon, Butterfly.«
Das Blut pulsierte mir in den Ohren und erfüllte mein Gehirn mit grauem Rauschen.
Ich steckte ihm zwei weitere Pillen in den Mund und goss Whisky nach, um ihm das Schlucken zu erleichtern. Er legte den Kopf zurück.
»Vielleicht bist du einfach noch nicht bereit dafür, Jay.« Mein Mund war trocken.
»Oh doch, das bin ich.«
»Du bist zu nichts verpflichtet. Du musst das nicht machen, nur um irgendeine Tradition zu wahren. Tu einfach nur, was du tun willst.«
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich das hier will,
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