Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
zu erkennen. Beim dritten Mal stieg ich an der Station Buttes-Chaumont ganz vorne ein, damit der Zug noch nicht seine volle Geschwindigkeit erreicht hatte, wenn wir an der Pflanze vorbeifuhren, was meine Chancen, ein gutes Foto zu bekommen, verbessern würde.
Jetzt, da ich wusste, an welcher Stelle ich suchen musste, sah ich die Pflanze jedes Mal, wenn wir daran vorbeifuhren. Doch selbst nachdem ich viermal hin- und zurückgefahren war, hatte ich noch immer kein zufriedenstellendes Bild. Die nächste Bahn, in die ich einstieg, verließ die Station und war kaum ganz um die Kurve, als sie abrupt stehen blieb. Der Fahrer entschuldigte sich für die Verzögerung und versicherte uns, dass es in ein paar Minuten weitergehen würde. Die Pflanze befand sich genau vor dem Fenster, an dem ich stand. Ich machte drei Fotos und war nach einem Blick auf das Display der Kamera einigermaßen zuversichtlich, dass ein scharfes Bild dabei war. Eine Frau, die sich mit mir im Waggon befand, lächelte mich an und musterte mich kurz von Kopf bis Fuß, dann sah sie wieder weg. In Paris sehen die Menschen einander an.
Zu Hause lud ich die Bilder auf Tomomi Ishikawas Computer. Ich löschte alle, die auch nur im Entferntesten verwackelt waren, und hatte am Ende genau eins übrig. Es gefiel mir. Das war ein schöner Schatz. Butterfly hatte recht. Mir gefiel der Gedanke, dass in der Metro tatsächlich eine Pflanze wuchs. Sie hatte kleine grüne, runde Blätter an bleichen, herabhängenden Zweigen. Es war keine schöne Pflanze, bloß irgendein Kraut, aber sie wuchs unterirdisch, mit nichts als einer schmalen Leuchtstoffröhre als Lichtquelle. Kann eine Pflanze mit so wenig Licht tatsächlich überleben? Anscheinend ja. Aber warum gibt es dann nicht mehr Pflanzen in der Metro? Es war die einzige, die ich dort je gesehen hatte, und ich war beeindruckt. Ich liebte diese Pflanze. Ich stellte das Foto als Desktophintergrund auf dem Laptop ein.
Erst zwei Tage später fiel mir etwas auf, das ich eigentlich sofort hätte bemerken müssen.
Die Pflanze aus der Metro leuchtete mir von Butterflys Laptopbildschirm entgegen, doch plötzlich sah ich hinter ihr, an der braunen Wand, Formen und Muster, die sich von dem Dunkel abhoben: Backsteinreihen, horizontale Streifen aus Rot und Weiß, wie man sie in jedem Metrotunnel sieht – und Wörter. Es hätte ein Graffiti sein können, aber dafür war die Schrift zu schlicht, die bleichen Buchstaben zu klein.
Ich öffnete das Bild in Photoshop, erhöhte den Belichtungswert und vergrößerte es. Jetzt erkannte ich unsaubere, hastig mit Kreide hingeschmierte Buchstaben in einer Mädchenschrift, in Butterflys Schrift. Hier lang, Ben Constable , stand dort und darunter wies ein Pfeil nach rechts.
Mein Herz machte einen Satz. Kein Zweifel. Tomomi Ishikawa hatte an der Wand des Tunnels eine Nachricht für mich hinterlassen. Wie zum Teufel war sie denn in einen Metrotunnel gelangt? Sie hatte schon immer gern die haarsträubendsten Eskapaden geplant, die nicht unbedingt legal und/oder geradezu gefährlich waren, aber sie hatte eben einfach eine große Klappe gehabt. Butterfly machte diese Sachen nicht. Es waren nur Ideen. Aber ich kenne ihre Schrift. Diese Nachricht hatte sie geschrieben. Und außerdem, wer sollte es denn auch sonst gewesen sein?
Wenn ich das Ganze richtig verstand, sollte ich also in den Tunnel gehen und dem Pfeil folgen, der mich zu einem weiteren verborgenen Schatz führen würde. Aber ich konnte ja wohl schlecht einfach da hineinspazieren. Dazu war ich zu feige, das gab ich gern zu. Es war eine nette Idee, aber so etwas machte ich im wahren Leben nicht. Ich fragte mich, was wohl diesmal der Schatz sein würde. Ein weiterer Mord?
Erst ein paar Stunden später, während ich zusah, wie der Himmel die Wolken nach Osten schob, fiel mir eine Lösung ein. Na ja, eigentlich war es eher eine Halb-Lösung. Ich würde einfach ganz oft mit der Metro hin- und herfahren und jeden Zentimeter zwischen Buttes-Chaumont und Bolivar fotografieren. Tausende von Fotos würde ich machen und sie anschließend zusammenfügen, sodass ich die gesamte Tunnelwand sehen konnte. Und dann würde ich jeden Backstein genau unter die Lupe nehmen, bis ich fand, wonach ich suchen sollte. Und wenn es ein Bild war oder irgendetwas anderes zum Anschauen, musste ich wenigstens nicht zu Fuß in den Tunnel und dabei meine Freiheit und mein Leben aufs Spiel setzen. Natürlich konnte es auch ein Umschlag oder so etwas sein, aber darum
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