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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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würde ich mich kümmern, wenn – falls – es so weit war.
    Den Rest des Tages brachte ich damit zu, mit der Linie 7bis hin- und herzufahren und Fotos zu schießen, während die anderen Fahrgäste Gleichgültigkeit vortäuschten oder mich in einigen Fällen mit unverhohlener Neugier anstarrten. Ich zählte das Klicken des Auslösers, maß die Abstände zwischen Lampen und anderen Orientierungspunkten und zeichnete eine Skizze in mein Notizbuch. Es war wichtig, dass ich den gesamten Tunnel fotografierte. Wie ein Zombie arbeitete ich durch bis nachts um halb zwölf und ging schließlich mit 517 Fotos nach Hause. Ich löschte alles, was verschwommen oder doppelt war, bis ich noch ungefähr 200 Bilder übrig hatte, die die Tunnelwand so ziemlich in voller Länge abdeckten. Dann begann ich, an Tomomi Ishikawas Computer eine Collage zu erstellen. Eine lange Kette aus einander überlappenden Fotos.
    Gegen fünf Uhr morgens schlief ich komplett bekleidet ein, dann wachte ich wieder auf und machte weiter. Um drei Uhr nachmittags hatte ich dann ein einziges großes Bild von der Strecke zwischen Buttes-Chaumont und Bolivar, das ich von rechts nach links durchscrollen konnte.
    Plötzlich merkte ich, dass ich riesigen Hunger und Durst hatte und außerdem dringend zur Toilette musste. Es war fast, als hätte ich meinen Körper für zwei Tage abgeschaltet, um mich ganz dieser einen Sache widmen zu können. Normalerweise kann ich mich gerade mal lange genug konzentrieren, um meinen eigenen Namen zu schreiben. Während der letzten paar Monate hatte ich nicht mehr als sechs Seiten zu Papier gebracht. Ich war erstaunt, wie sehr ich mich für diese mühselige Arbeit aufgeopfert hatte. Schnell machte ich mir etwas zu essen und ging dann duschen.
    Ich räumte die Küche auf und setzte mich zurück an den Computer, um mir das Bild genauer anzusehen. Das neue Foto von der Pflanze war sogar noch besser als das, was ich schon hatte, und die Schrift an der Wand war gestochen scharf zu erkennen. Ich folgte dem Pfeil, doch ich musste gar nicht weit scrollen. Etwa dreißig Meter von der Pflanze entfernt stieß ich auf eine türartige Öffnung; dahinter führten ein paar Stufen nach unten und irgendetwas war dort an die Wand gemalt. Ich zoomte heran und erkannte, dass es ein Pfeil war, der in einem Fünfundvierziggradwinkel nach unten deutete. Darunter stand in ungelenken Druckbuchstaben: Hier runter, BC .
    Scheiße. Sie wollte also, dass ich in den Tunnel ging und dann weiter in irgendeine verborgene, unterirdische Welt. Ich konnte nicht in den Tunnel. Das würde mit Sicherheit Ärger geben. Kein besonders guter Grund, nicht hin und wieder mal ein kleines Abenteuer einzugehen, ich weiß, aber so war es nun mal. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, so etwas zu tun. Es war unmöglich. Und außerdem völliger Unsinn, ein so großes Risiko einzugehen, nur um irgendetwas zu finden, das mir eine Tote hinterlassen hatte.
    Ich stand da und starrte Richtung Süden in den Tunnel am Ende der Metrostation Buttes-Chaumont. Direkt vor mir hing ein gelbes Schild, das mir den Durchgang untersagte und außerdem den Weg die kleine Treppe hinunter versperrte. Auf dem Bahnsteig standen ein paar Leute und warteten, zu viele, als dass ich es unbemerkt die Stufen hinunter geschafft hätte. Wie stellten all die Graffiti-Sprayer das bloß an? Es musste Hunderte von Leuten geben, die diese Tunnel andauernd benutzten. Warum dann nicht ich? Ich beschloss, dass ich wohl besser bis nachts wartete, wenn keine Metro mehr fuhr. Dann wäre niemand mehr hier und außerdem bestand nicht die Gefahr, dass ich von einer U-Bahn überrollt oder von einem Stromschlag gegrillt wurde (vorausgesetzt, sie schalteten den Strom nachts aus). Neben den Gleisen war gerade genug Platz für eine Person. Nicht wie in London, dachte ich. Wenn man dort in einem U-Bahn-Tunnel neben den Schienen herlaufen würde und ein Zug käme, würde man komplett zerquetscht werden. Hier dagegen hätte man immer noch ein gutes Stück Luft, solange man sich nah an der Wand hielt.
    Eine Bahn kam auf mich zugerast und fuhr in die Station ein. Ich beobachtete, wie eine Handvoll Leute aus- und einstiegen, und noch während die letzten in den Aufzug stiegen, der sie nach oben bringen sollte, kam schon der nächste Schwung. Nie im Leben würde ich es so auf die Gleise schaffen. Oder war ich einfach nur ein Feigling? Als wollte er bestätigen, dass ich das Problem damit haargenau erkannt hatte, tauchte plötzlich Cat

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