Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
Butterfly.«
»Ich kann es jedenfalls nicht für dich machen«, sagte ich zu ihm, aber meine Finger kribbelten bereits vor Hoffnung, dass er es mir überlassen würde.
Er riss mühevoll die Augen auf und starrte erst mich an und dann das Messer, so als könnte er es durch pure Willenskraft auf sein Handgelenk zubewegen. Ich schloss meine Finger um seine, damit er das Messer sicher packen konnte, doch seine Hand sackte schlaff herunter und ließ den Griff in meiner zurück. Ich drehte die Innenseite seines Arms nach oben und positionierte sie unter der Klinge. Meine Kehle schmerzte und Tränen rannen mir über die Wangen. Mein Atem ging schnell und keuchend. Mein Magen konnte sich offenbar nicht entscheiden, ob er sich umdrehen oder mir in die Kniekehlen rutschen sollte, und mein Gehirn schien jeden Moment zerbersten zu wollen. Jay sah mich an und nickte. Mit einem Ruck stieß ich das Messer nach unten und zog die Klinge scharf seinen Arm hinunter, durch Sehnen und Arterien, bis auf den Knochen. Er sog zischend den Atem ein (mehr vor Überraschung als vor Schmerz) und das Blut schoss dick und rasch aus ihm heraus. Ich brach in so heftiges Schluchzen aus, dass ich würgen musste, und hockte auf Händen und Knien auf dem Badezimmerboden.
»Danke, Butterfly. Tausend Dank.«
»Das schon wieder.« Meine Worte quollen mir formlos, wimmernd über die Lippen. Schwarze Luft erfüllte meine Lunge und mein Körper brannte vor Schmerz.
Jay lehnte den Kopf zurück und blickte an die Decke. Ich sank zu Boden, die Glieder von mir gestreckt und mit dem Gesicht nach unten. Speichel sickerte aus meinem Mund. In ein paar Minuten würde er fort sein. Keine Gespräche mehr beim Kaffee. Kein lautes Gelächter. Er würde eine Lücke zurücklassen. Ich wollte mich nicht rühren, doch nach einer Minute kämpfte ich mich zitternd auf die Beine.
»Ich muss gehen, Jay.«
»Mach’s gut, Butterfly.«
Ich gab ihm einen Kuss auf den Kopf und meine Tränen tropften auf ihn hinunter. »Mach’s gut.«
»Butterfly?«
»Ja?«
»Kannst du mir den Whisky geben?«
»Ja.« Ich nahm die Flasche und stellte sie vorsichtig auf seinen narbigen (aber ansonsten unversehrten) Bauch. Das Messer plumpste ins Wasser und Jay bewegte seinen nicht blutenden Arm auf die Flasche zu, damit sie nicht umfiel.
Mein Weinen hatte seinen Zenit überschritten und ich spürte, wie mein Körper schneller in seinen Normalzustand zurückfand, als ich es für möglich gehalten hätte.
»Danke, Butterfly. Tausend Dank.«
»Ich gehe jetzt. Mach’s gut, Jay.« Ich weinte noch immer, doch zugleich fühlte ich mich leicht und lebendig. Wie neugeboren.
»Mach’s gut, Tomomi Ishikawa.« Er schloss die Augen und dachte an den gut aussehenden jungen Mann mit den dunklen Haaren, der jeden Donnerstagnachmittag um 15 Uhr 30 in die Bibliothek kam; er war groß, dunkel gekleidet und wirkte immer etwas windzerzaust. Jedes Mal suchte Jay sich irgendeine Beschäftigung im Rose Room und wartete ungeduldig auf ihn. Jeden Donnerstag um 15 Uhr 30 holte der Mann am Südende des großen Lesesaals ein Buch aus der Tasche (jedes Mal ein anderes Buch, jedes Mal ein Roman), setzte sich hin und las eine Stunde. Jetzt war der Saal leer und die gedämpften Geräusche Hunderter lesender Leute wichen einer vollkommeneren Stille. Die Sonne schien von Westen herein und es gab nur noch Jay und den jungen Mann. Er las seine Seite zu Ende und blickte dann auf. Als er Jay erkannte, lächelte er.
»Ich bin deinetwegen gekommen«, sagte er.
»Ich wusste es«, erwiderte Jay. »Ich wusste, dass du es sein würdest.«
8
I M U NTERGRUND
Mir spukten unablässig Bilder einer Klinge, die Jays Handgelenk aufschlitzte, durch den Kopf und ich sah dunkles, pulsierendes Blut aus seinem Arm quellen, bevor es im Badewasser hellrot wurde.
Wenn man jemandem beim Sterben hilft, weil er oder sie darum bittet, fällt das dann unter Mord? Vor Gericht vielleicht schon, aber aus moralischer Sicht kann es doch nicht falsch sein. Oder? Warum hatte sie denn auch dabei sein müssen? Warum hatte sie das für ihn getan? Allerdings war Butterfly eine versierte Geschichtenerzählerin, das musste nicht heißen, dass alles wirklich so passiert war. Ihre Anekdoten waren immer mehr wie Spiele gewesen – extrem und übertrieben.
Dieser Fährte musste ich also folgen. Ich setzte mich wieder an ihren Computer und fand schließlich den Mut weiterzusuchen. Ich sah mir die Namen in dem Meine Toten -Ordner genauer an: Tracy, Jay,
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