Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
der Hesperiden . Ich sah auf die Uhr, es war elf. Die Metro fuhr noch.
Ich fuhr mit der Linie 6 bis Montparnasse und durchquerte das Bahnhofsgebäude, vorbei an der Treppe zum Garten, die nun vor einer verschlossenen Tür endete, und trat durch den Osteingang auf die Straße hinaus. Ich lief an dem Aufzug vorbei, der wie ein überdimensionierter Briefkasten mitten auf dem Bürgersteig hockte, links von mir das Le Petit Journal und rechts der SNCF-Hauptsitz. Am oberen Ende mündete die Straße in ein großes Rondell und ich wandte mich nach rechts, ging an der geschwungenen Front des Hotel Concorde entlang und bog schließlich in eine kleine Zufahrtsstraße hinter dem Hotel.
Cat, der plötzlich aufgetaucht war, lief vor mir her die Auffahrt hinauf, und wir hielten uns dicht an der Wand, was mir vernünftig vorkam. Als ich meinen geheimen Eingang erreichte, sah ich mich jedoch einem vier Meter hohen Stahltor mit verzierten Gitterstäben gegenüber, das mir den Weg versperrte. Wieso war mir das noch nie aufgefallen? Cat schlüpfte mühelos hindurch und hielt dann Ausschau nach mir. »Da passe ich nie im Leben durch«, sagte ich zu ihm, machte einen Schritt rückwärts und blickte nach oben, wo die Abstände zwischen den Stäben größer waren. Ohne Schwierigkeiten kletterte ich an dem Tor hoch und überwand die piksigen Dinger, ohne die das Unterfangen geradezu lächerlich einfach gewesen wäre. In etwa zweieinhalb Metern Höhe befand sich im Tor eine Reihe etwas größerer Öffnungen. Als Kind hatte ich mich immer an die Theorie gehalten, dass, bekam man seinen Kopf durch eine Lücke, auch der Rest des Körpers hindurchpasste (wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hatte ich da wahrscheinlich etwas mit den Schnurrhaaren einer Katze durcheinandergebracht, die ja dazu dienen, die Breite ihres Körpers einzuschätzen), allerdings war ich als Kind auch ziemlich dünn gewesen. Noch heute bin ich recht schlank. Ich berührte kaum die Stangen und schon war ich auf der anderen Seite. »Was meinst du, Cat, sind wir gut oder war es bloß verdammt einfach?«
Ich war überzeugt davon, dass es hier Sicherheitskameras gab, gleichzeitig aber ging ich davon aus, dass keiner sie groß beachtete, weil einfach niemand damit rechnete, dass irgendjemand über dieses Tor klettern würde. Vorsichtshalber achtete ich darauf, mich im Schatten zu halten, doch wenn ich zu der Stahlkonstruktion in der Mitte gelangen wollte, musste ich zwangsläufig ein Stück über offenes Gelände. Ich erwog, beherzt über den Boden zu robben, andererseits würde mich das wohl nur noch verdächtiger wirken lassen. Die Insel der Hesperiden ist ein modernes Kunstwerk und zugleich eine Wetterwarte. Sie erhebt sich auf vier Stützen über dem Weg und ihr Herzstück, eine große Metallscheibe, scheint auf irgendetwas ausgerichtet zu sein, obwohl ich keine Ahnung habe, worauf. Die Wolken vielleicht? An jeder der vier Ecken des Gebildes befindet sich ein Messgerät für verschiedene meteorologische Daten: Regen, Windgeschwindigkeit, Temperatur und Luftdruck. Ich hoffte, dass ich nicht auf Teufel komm raus in diesem Park herumbuddeln musste, denn ich mochte ihn schon immer ziemlich gern – einfach, weil er so außergewöhnlich ist. Ich umrundete die Konstruktion auf der Suche nach einem Hinweis. Er war nicht schwer zu finden. Außen an einer der Stützen stand mit schwarzem Filzstift ein Vers in hastigen Druckbuchstaben geschrieben:
Yet let no empty gust
Of passion find utterance in thy lay.
A blast that whirls the dust
Along the howling street and dies away;
But feelings of calm power and mighty sweep,
Like currents journeying through the windless deep.
Das war Butterflys Handschrift.
Ich hatte meine Tasche nicht bei mir und somit auch keinen Stift. Ich las die Zeilen noch einmal und wandte mich dann ab, um zu prüfen, ob sie mir im Gedächtnis geblieben waren. Waren sie nicht. Ich las mir das Gedicht fünfzig Mal laut vor, bis ich mir die Worte eingeprägt hatte. Ich wäre gern noch ein bisschen länger in dem Garten geblieben, denn das musste der Schatz sein, um den es ging, aber ich brauchte so schnell wie möglich Zettel und Stift.
Cat und ich schlichen zurück zum Tor und schlüpften hindurch, während ich mir ununterbrochen das Gedicht vorsagte. Ich betrat das Hotel an der Ecke und fragte an der Rezeption nach einem Stift. Nach meinem heimlichen Kletterabenteuer muss ich ziemlich derangiert ausgesehen haben, aber falls das Hotelpersonal derselben
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