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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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Süden, auf einen Turm und die Heimat einer verlorenen Generation zu.
    Und durch die Wolken drängte sich der anschwellende Mond, voll des Bedauerns, schwer, als wollte er vom Himmel fallen.
    Zu meiner Linken hörte ich Stimmen vom Friedhof, es waren die Toten, ihre Lockrufe, zuweilen volltönenden Chorälen gleich und dann wieder in dröhnender Kakofonie, die auf meine Ohren einstürmten und auf meinem Gemüt lasteten: Baudelaire, de Beauvoir, Beckett, Duras, Franck, Garnier, Gainsbourg, Guilmant, Larousse, Maupassant, Sartre, Sontag – wartet. Wartet! Ich bin bald bei euch!
    Vor der Glasfassade des Bahnhofs verweilte ich und beobachtete das Kommen und Gehen vergänglichen Lebens. Menschen scharten sich um mich. Zuerst erschien es mir wie ein Zufall, als sei ich in eine Art Versammlung geraten, doch nach und nach richtete sich die Aufmerksamkeit auf mich, erhoben sich Spott und wütendes Geschrei.
    Ich hob die Hände, um meinen Kopf zu schützen, und wünschte mir, der Erdboden würde sich auftun und mich verschlingen. Na, mach schon. Worauf wartest du? Doch der Boden tat nichts dergleichen und meine Angst trieb mich zum Handeln.
    »Aufhören!«, schrie ich und Stille brandete über den Platz. Ich breitete die Arme aus und die Menschen wichen vor mir zurück. Meine Lippen formten die Worte: »Ihr habt kein Recht, mich zu verurteilen!«, und ein Raunen ging durch die Menge.
    Da hob ich sie hoch und trug sie alle vor mir her durch den Bahnhof, vorbei an den Ticketschaltern und den belegten Brötchen, der Uhr und dem Abfahrtsplan, vorbei an den Bahnsteigen und den Hochgeschwindigkeitszügen auf ihren Gleisen, die nach Süden und Westen streben, dem Ozean entgegen, so wie sich Schösslinge auf der Suche nach Tageslicht aus der Erde recken. »Ich werde euch alles zeigen, euch alles sagen und ihr werdet vor Ehrfurcht erstarren, verzaubert von der Illusion.« Wie sonst sollte ich ihnen entkommen?
    Höher und höher stiegen wir, bis wir in einen Garten kamen; die Insel der Hesperiden, eine Oase zwischen Wüstenbergen, ein Tor zu einer neuen Welt jenseits der Sargassosee.
    Die Menschen glotzten staunend, reglos vor Angst, doch einer von ihnen blieb ungerührt. Er war abgelenkt durch den Anblick des Gartens.
    »Ich liebe diesen Ort«, sagte er.
    Ich hatte gewusst, dass er kommen würde. Ich hatte mich zu Recht gefürchtet.
    »Mein Weg steht fest«, rief ich. »Es ist der Weg der Toten. Verurteile mich nicht dafür. Bitte.«
    Aber er hörte nicht auf mich. Nicht weil er meine Worte als unwichtig erachtete, er verstand sie einfach nicht. (Oder verschloss er sich absichtlich gegenüber dem, was er nicht sehen wollte?)
    Ich deutete mit dem Zeigefinger. »Alles, was du wissen musst, ist für dich niedergeschrieben worden. Sieh dich nur um. Es ist da.«
    Und als er sich umdrehte, stahl ich mich davon, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dicke Wolken zogen auf und die Toten riefen mich zu sich: »Komm schnell.«
    Geh nun, fort von hier. Verlass diesen Garten und überwinde den Ozean zu einer Reise in meine Vergangenheit mit all ihren Schätzen, die dort auf dich warten, und ich werde fliehen, bevor der Sturm mich holt.
    Schatten schoben sich vor den Mond und der Wind schwoll zu einem Orkan an, der die Bäume zu entwurzeln und den Turm niederzureißen drohte. Der Himmel wird auf uns herabstürzen und die Toten werden sich aus ihren Gräbern erheben, um mich zu sich zu holen, wenn ich nicht zu ihnen gehe.
    Bitte geh, bevor es zu spät ist. Wach auf. Wach auf und geh. Wenn der Sturm vorüber ist und die Toten sich wieder zur Ruhe gelegt haben, kannst du zurückkehren.
    Der Garten wird satt und grün sein, Blüten werden die Bäume zieren und das Wasser aus dem Brunnen wird kalt durch deine Finger strömen.
    Verdammt. Der Turm, der Bahnhof, die verlorene Generation und der Friedhof waren Montparnasse. Oben auf dem Dach des Bahnhofs gibt es einen Garten, den Jardin Atlantique, ich hatte ihn eines Tages im Winter entdeckt, als ich meinen Zug verpasst hatte und eineinhalb Stunden auf den nächsten warten musste. Ich hatte Butterfly davon erzählt, wie er auf allen Seiten von hohen Gebäuden eingeschlossen ist. Hinein gelangt man entweder über eine Treppe im Bahnhofsgebäude oder mit einem der zwei Aufzüge in den Straßen auf der Ost- und Westseite des Gebäudes. Der Garten wird bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen, aber ich kenne noch einen weiteren Weg hinein. In der Mitte der Anlage steht eine Stahlkonstruktion mit dem Namen Insel

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