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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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damit verbracht, die Umwandlung von Blei zu Gold zu erforschen und Experimente durchzuführen. Eines Tages jedoch, als er schon sehr alt gewesen war, erregte er die Aufmerksamkeit der anderen Anwohner, die bemerkt hatten, dass jeden Tag um elf Uhr ein einzelner Tropfen Gold von der Spitze des Hauses auf den Bürgersteig fiel. Bald versammelten sich schon am frühen Morgen die Menschen vor dem Haus, in der Hoffnung, dieses tägliche Geschenk des Himmels auffangen zu können, und dies ist die wahre Geschichte, die hinter dem Namen dieses Stadtteils steckt. La Goutte d’Or – der Goldtropfen.
    Das offensichtlichste Versteck für einen Schatz war ein großer Pflanzkübel auf dem Bürgersteig neben mir.
    Um wenigstens halbwegs normal zu wirken, tat ich so, als hätte sich mein Schnürsenkel gelöst, und versuchte beim Bücken, einen raschen Blick unter den Kübel zu werfen, doch diese List brachte mich nicht weiter und so tastete ich ein paar Sekunden später auf Händen und Knien die Unterseite des Kübels ab, in der Hoffnung, dass dort etwas für mich kleben würde – jedoch vergeblich. Als wäre nichts gewesen, setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl und blickte auf die Straße. Ich holte Tomomi Ishikawas Kuli aus der Tasche und stach ihn unauffällig in die weiche Blumenerde, immer wieder, bis ich nach einer Weile, ein paar Zentimeter unter der Oberfläche, auf etwas relativ Festes stieß.
    Noch immer bestrebt, einen einigermaßen normalen Anschein zu wahren, schob ich meine Hand in den Blumentopf und zog eine versiegelte Plastiktüte mit einem Briefumschlag darin heraus, dann strich ich die Erde sorgfältig wieder glatt. Auf der Vorderseite des Umschlags stand in vertrauten Druckbuchstaben: Vorsicht beim Öffnen, es könnte etwas rausfallen . Eingewickelt in einen mit blauer Tinte beschriebenen Papierfisch fand ich einen winzigen Goldtropfen, geformt wie eine Träne und mit einem kleinen Ring am spitz zulaufenden Ende. Er war einmal Teil eines Ohrrings gewesen, den ich in der Metro gefunden hatte. Ich hatte den Rest entfernt, bis nur noch der Tropfen übrig geblieben war, und ihn Butterfly geschenkt. Dabei hatte ich ihr die Geschichte des Hauses in der Rue Myrha erzählt, deren historischen Wert sie jedoch recht unhöflich angezweifelt hatte.
    Ich musste einfach lächeln. Perfekt, Butterfly. Das war der perfekte Schatz.
    Auf dem Zettel stand nur ein einziger Satz in Anführungszeichen:
    »Der braune Fluß strömte rasch aus dem Herzen der Finsternis heraus und trug uns zweimal so schnell zum Meer hinab, wie wir für unsere Fahrt stromaufwärts gebraucht hatten; und auch Tomomi Ishikawas Leben verströmte rasch, verebbte, verebbte und floß aus ihrem Herzen zurück in die See der unaufhaltsamen Zeit. «
    Es kostete mich erhebliche Mühe, mein Gesicht unter Kontrolle zu halten, so zufrieden war ich mit mir selbst. Dieser Satz war ein Zitat und ich wusste sogar, woher es stammte. Das hatte ich zwar vermutlich der Tatsache zu verdanken, dass in dem Zitat der Titel des Buches genannt wurde, aber ich fühlte mich trotzdem sehr gebildet.
    Zu Hause nahm ich meine Ausgabe von Das Herz der Finsternis aus dem Regal und blätterte sie durch. Schnell hatte ich die Textstelle gefunden. Tomomi Ishikawa hatte den Namen Kurtz durch ihren eigenen ersetzt, als bittere Anspielung auf ihr eigenes schwindendes Leben, das verebbte, verebbte und aus ihrem Herzen floss, während sie dieses Spiel für mich ersann. Dann aber wusste ich nicht weiter. Sollte ich etwa das ganze Buch lesen, auf der Suche nach etwas, das mich in eine weitere Sackgasse hin zu einem von Butterflys dunklen Geheimnissen führen würde?
    Verebbte, verebbte – das hatte ich schon mal irgendwo gelesen, und zwar in blauer Handschrift im Deckel genau des Buches, das ich nun in der Hand hielt.

    Paris, November 2006
    Dies ist ein Geschenk für dein finsteres Herz. Du erinnerst mich an die Gedanken, die verebben, verebben, mir unaufhaltsam durch die Hände gleiten und in mein Gehirn sickern wie eine groteske Offenbarung.
    X O X
Butterfly
    Ich hatte ihre Widmung für kompletten Blödsinn gehalten. Verebben, verebben … in mein Gehirn sickern.
    Ich öffnete den Ordner Mein Gehirn auf ihrem Laptop und klickte auf die Datei Die Offenbarung der Butterfly .
    Die Offenbarung der Butterfly
    Als die Sonne hinter dem Horizont versunken war und der rote Fleck am Himmel langsam verblasste, bis nichts als ein bleicher, von Straßenlaternen erhellter Schleier verblieb, lief ich gen

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