Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
dich, Tomomi Ishikawa. Du scheinst ja wirklich im großen Stil geplant zu haben, meine Zeit zu verschwenden und mich in gefährliche und unangenehme Situationen zu bringen. Ich habe keine Lust mehr auf deine Schatzsuche und ich will auch nicht von deinem Geist heimgesucht werden. Ach ja, und noch was: Was zum Teufel mache ich in deinem Meine Toten -Ordner? Wolltest du mich vielleicht auch noch umbringen? Na, vielen Dank. Ich finde, du solltest jetzt gehen.
Ben.
Na toll, jetzt schrieb ich schon Briefe an eine Tote und wurde dabei von meiner imaginären Katze beobachtet. Ich fürchte, ich gab nicht gerade ein Muster geistiger Gesundheit ab, aber was soll’s, ich hatte nicht das Gefühl, vollends durchgeknallt zu sein, und ohne diese Sache wäre ich mit meinem bescheidenen Leben wahrscheinlich ganz zufrieden gewesen. Ich brauche nun mal keine großen Abenteuer. Mir reicht es, die Wolken zu beobachten und den Geräuschen der Straße zu lauschen. Ich gehe gern mit meinen Freunden in Bars und lerne gern neue Leute kennen. Mir gefällt mein Leben als Ausländer in Paris. Etwas anderes brauche ich nicht.
Meine Stimmung war umgeschlagen. Der Brief an Butterfly hatte irgendetwas mit mir angestellt. Ich fühlte mich immer noch schlecht behandelt und schämte mich für meine Feigheit, aber ich war nicht mehr wütend. Ich wollte das alles verstehen. Ich wollte das Rätsel lösen und den Schatz finden.
Wieder überflog ich Tomomi Ishikawas Brief. Etwas sprang mir ins Auge. Der nächste Schatz ist aus echtem Gold … ein Tropfen Geschichte, über deren genauen Verlauf wir verschiedener Meinung waren. Weißt du, wovon ich rede? Natürlich wusste ich das.
Ich schaltete ihren Computer ein und öffnete den Ordner Mein Paris , überflog die Dateinamen auf der Suche nach etwas Bekanntem und wurde fündig. Ein Dokument war mit La Goutte d’Or betitelt. Das hatte ich mir noch nicht angesehen. Brauchte ich nicht. Ich wusste auch so, dass es der Name eines Pariser Stadtteils ist. Eines Stadtteils, den ich besser kannte als Tomomi Ishikawa, denn ich hatte eine Zeit lang dort gewohnt. Wir hatten uns nicht über den Ursprung dieses Namens einigen können – obwohl ihre Version von einem goldfarbenen Wein, der dort vor Hunderten von Jahren produziert worden war, historisch gesehen wohl wahrscheinlicher war. Meine Theorie war vermutlich nicht viel mehr als ein Großstadtmythos. Ich riss die Antwort an Butterfly aus meinem Notizbuch, faltete sie und steckte sie zusammen mit ihrem Brief zurück in den Umschlag, bevor ich ihn auf den stetig anwachsenden Stapel aus Sachen legte, die mit ihr zu tun hatten.
10
A UF S CHATZSUCHE
Die Lethargie des nächsten Tages war leichter zu ertragen und ich war ziemlich zufrieden damit, nichts zu tun. Schließlich hatte ich Urlaub; ich konnte machen, was ich wollte. Nach dem Frühstück hielt ich ein kleines Nickerchen; der Tag zog an mir vorbei und trotz halbherziger guter Absichten verließ ich das Haus nicht vor dem späten Abend.
Ich fuhr mit der Linie 2 bis La Chapelle und machte mich auf den Weg durch die schmalen Gassen von La Goutte d’Or. Jugendliche trafen sich an Straßenecken und überall eilten betriebsam Leute zwischen Hauseingängen, Geschäften und Cafés hin und her. Die Luft roch nach Nacht und Sommer, trocken und würzig. Es war nicht gerade die allerschönste Gegend, aber sie war belebt und das gefiel mir.
Ich lief einen Schlenker über die Rue Doudeauville und bog dann ab Richtung Château Rouge, wo mir ein paar Straßenhändler Sonnenbrillen und Gürtel aufzuschwatzen versuchten, bis eine Polizeistreife erschien und das auf Motorhauben präsentierte Sortiment blitzschnell in Tücher eingeschlagen und davongeschafft wurde.
Ich überquerte den Boulevard Barbès und folgte der Rue Poulet, vorbei an zahlreichen Läden mit afrikanischen Haarpflegeprodukten, bis der Weg schließlich am Fuß des Montmartre anzusteigen begann. Am oberen Ende der Straße, dort wo die Rue Poulet und die Rue Myrha aufeinanderstoßen, steht ein schmales Art-déco-Gebäude, in dem vor nicht allzu langer Zeit eine Bar eröffnet hatte. Ich setzte mich auf die Terrasse, bestellte ein Bier und sah mich um. Hier gab es definitiv Schätze zu entdecken.
Bevor das Art-déco-Haus gebaut worden war, hatte an seiner Stelle ein wesentlich älteres gestanden. Vor Hunderten von Jahren hatte im obersten Stockwerk dieses Hauses ein Alchimist gewohnt. Er hatte ein Eigenbrötlerdasein geführt und einen Großteil seiner Zeit
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