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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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auf den Straßen hinterließen. Eine Weile stand ich bloß da und starrte hinein. Ich hatte Hunger. Ich wusste nicht, worauf ich Appetit hatte, aber ich war mir sicher, dass sich unterwegs schon irgendetwas finden würde.
    Am Washington Square machten meine Beine schlapp, und als ich auf meine müden Füße hinunterblickte, sah ich Schmutz an meinen Turnschuhen. Schmutz vom Ground Zero. Die Toten an meinen Füßen, lief ich weiter, starrte die meiste Zeit auf sie hinunter und roch dabei die Straßen, die rings um mich unaufhörlich ihre Form und Größe änderten. Ich war jetzt in der 6th Avenue, doch ich hatte noch immer kein Ziel. Weiter, Richtung Norden. Die Nummern der Straßen begannen anzusteigen und ich spürte, wie meine Beine unter dem Gewicht Tausender Seelen ächzten, die ich mit mir stadtaufwärts schleppte. Durch die hübsch begrünte West 10th Street mit ihren roten Sandsteinhäusern und breiten Treppen, die zu weiten Hauseingängen hinaufführten, erreichte ich die 5th Avenue. Je weiter ich nach Norden vorstieß, desto höher wurden die Häuser. Diese Gebäude hatten nichts mehr mit den bedrückend dunklen Blocks des Finanzdistrikts gemeinsam, die das Schicksal herauszufordern schienen, Tod und Elend auf sie herabregnen zu lassen; diese Gebäude hier waren älter, heller, und verströmten einen altmodischen, vielleicht unangebrachten Optimismus. Und sie schienen nicht enden zu wollen.
    Nachdem ich bei meiner Ankunft (Wann war das noch mal gewesen? Erst gestern Morgen?) so enttäuscht gewesen war, wie wenig dieser Ort meinen Vorstellungen entsprach, befand ich mich nun in einem New York, das so dermaßen jedem Klischee entsprach, dass es beinahe wie seine eigene Parodie wirkte, wenn auch zugleich unerwartet ruhig und frisch. Die Taxis waren gelb, aber niemand hupte, Polizeiautos rollten langsam und lautlos vorbei – hin und wieder hörte ich das abgehackte Aufjaulen einer Sirene, das mich an die Rufe exotischer Vögel erinnerte – und selbst die Penner auf den Straßen wirkten nüchtern (sie wirkten nicht mal wie Penner – vielleicht waren es auch einfach Leute, die ein bisschen herumsaßen). Ich lief zehn Blocks weit, dann noch mal zehn und die Gebäude wurden immer noch höher und höher und das Gewicht der Toten an meinen Füßen schien mich zum Stehenbleiben nötigen zu wollen, aber das tat ich nicht. Ich hatte keine Zeit. Stehen bleiben konnte ich, wenn ich tot war. Ich frage mich, wie viele Meilen ich an diesem Morgen wohl gelaufen bin. Das Empire State Building ist so hoch, dass man seine Spitze nicht sehen kann (zumindest nicht von dort, wo ich stand).
    Das niedrigste Gebäude in diesem Teil der 5th Avenue ist wuchtig, mit Ziersäulen und einer von Löwen bewachten Eingangstreppe. Butterfly musste dieses Gebäude geliebt haben. Ich ging darauf zu und blieb direkt vor dem Eingang stehen. Ein Schriftzug an der Fassade informierte mich, dass es sich um die New York Public Library handelte. Ja, Butterfly hatte es geliebt. Ich ging hinein und stellte mich in eine kurze Schlange von Leuten, um meine Tasche durchsuchen zu lassen.
    Während ich die Treppe hinaufstieg, ließ ich meine Hand über das Steingeländer gleiten, wanderte dann durch die Korridore und eine zweite Treppe hinauf. Ich gelangte in einen riesigen Lesesaal, in dem Hunderte von Leuten ihren geistigen Horizont erweiterten, und ging weiter. Etwas an dieser Bibliothek verwirrte mich. Wo waren die Bücher?
    Ich lief eine Treppe hinunter und landete in einem menschenleeren Raum voller identischer, braun gebundener Wälzer, die wohl irgendeinen Katalog darstellten. Ich zog eins davon aus dem Regal, nahm es mit zu einem der Tische und schlug es auf; die Seiten waren voll endloser Reihen alphabetisch geordneter Einträge, aber ich verstand überhaupt nicht, worauf diese sich bezogen. Ich stützte meinen Kopf in die Hände und studierte eine Seite, während die Toten reglos auf dem Marmorboden verharrten.
    Die Zeit verging (vermutlich nicht besonders viel, aber etwas), dann wanderte ich weiter, entlang, hinauf, hinab, bis ich mich schließlich am Eingang wiederfand, wo ich mich in eine kurze Schlange von Leuten stellte, um beim Verlassen des Gebäudes meine Tasche durchsuchen zu lassen. Als ich ins Freie trat, knallte mir die Sonne senkrecht von oben auf den Kopf. Ich zündete mir eine Zigarette an, setzte mich auf die Stufen und beobachtete die Menschen und Autos.
    Ich weiß nicht, warum ich mich noch einmal zur Bibliothek umdrehte, aber

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