Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
einem Café rauchende Frau ihrer Freundin auf der anderen Straßenseite »Hey!« zuruft … liegt das Besondere dieses Ortes darin, dass er das Gefühl haben wird, ihn bereits zu kennen, das Gefühl, schon einmal über diese Bürgersteige geschlendert zu sein, zusammen mit einer alten Freundin, und sich dort zu Hause gefühlt zu haben. An einer Tür mit der Nummer 44½ wird Klaviermusik seinen Blick zum obersten Stockwerk lenken und er wird sich fragen, welche Eigentümlichkeit ihn dort erwartet.
Ich schob den Brief über den Tisch zu meiner Begleiterin hinüber. Sie hörte kurz auf zu essen, um ihn zu lesen, während ich erneut in den Umschlag griff und einen kleinen quadratischen Zettel herauszog, auf dem ebenfalls ein eingescannter handschriftlicher Text zu sehen war.
Oh, Ben Constable,
ich freue mich so, dass du das hier gefunden hast! Ich hoffe, es war nicht zu schwer. Wahrscheinlich musstest du ziemlich viel recherchieren und eine lange Reise auf dich nehmen. Nun folge dem nächsten Hinweis. Geh zu der Straße und ich möchte dir ans Herz legen, eine Flasche Wein oder eine andere französische Delikatesse mitzunehmen, als Geschenk für die Hüterin des Schatzes. Sei besonders nett zu ihr, obwohl ich mir da bei dir wohl kaum Sorgen machen muss.
B. X O X
Die Schrift war klein und bedeckte jeden verfügbaren Millimeter, sodass der letzte Teil ganz am Rand der Seite entlang verlief, bevor sich auch noch die Küsse dahinterquetschten.
»Erinnert mich an das Buch Die unsichtbaren Städte von Italo Calvino, einem italienischen Autor«, bemerkte die junge Frau sachlich.
»Aha«, sagte ich, weil ich keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.
»Ich denke, du musst ins East Village. East 6th oder 8th Street, je nachdem, ob du an der 40th oder 42nd anfängst.«
»Okay.« Plötzlich hatte ich das Gefühl, mich in Gegenwart einer höheren Intelligenz zu befinden. »Jetzt kannst du auch gleich noch den Rest lesen«, meinte ich und schob den quadratischen Zettel zu ihr hinüber.
»Deine Schatzsuche ist ja wirklich süß«, kommentierte sie.
»Danke.« Ich sah auf meine Schuhe hinunter und sie folgte meinem Blick. »Tote Menschen.«
»Wie bitte?«
»An meinen Schuhen. Das ist Schmutz vom Ground Zero. Ich war heute Morgen dort und habe an einem Tor gestanden, wo die Lkws rein- und rausfuhren, und als ich weitergehen wollte, hatte ich diesen ganzen Dreck an den Schuhen mit der Asche von Tausenden von Menschen. Wahrscheinlich sollte ich ihn langsam mal abwischen, aber ich trage ihn schon die ganze Zeit mit mir herum, als Zeichen meines Respekts.«
Sie betrachtete die Toten einen Moment lang andächtig, dann fragte sie: »Seit wann bist du in New York?«
»Ich bin gestern gegen fünf Uhr morgens in Manhattan angekommen. Aber ich konnte erst nachmittags ins Hotel und habe bis heute Morgen durchgeschlafen, also ist eigentlich heute mein erster Tag.«
Sie schwieg eine Weile, als dächte sie darüber nach. »Und wann ist deine Freundin gestorben?«
»Am 15. März.«
»Wart ihr ein Paar?«
»Nein. Aber woher weißt du eigentlich, dass sie eine Frau war?«
»Ist sie einfach. War sie. Entschuldige. Ich glaube, du hast irgendwann mal sie gesagt, als du über sie gesprochen hast. Außerdem ist das hier eine weibliche Handschrift.«
»Ja, kann sein.« Sie war ziemlich hübsch – die Frau, die mir gegenübersaß. »Du bist ganz schön alt für eine Studentin.«
»Herzlichen Dank.«
»Ich meine … nicht alt , aber du bist auch keine zwanzig mehr, oder?«
»Ich bin neunundzwanzig. Ich promoviere und ich habe spät angefangen.«
»Ist eine ungewöhnliche Zeit, um in der Bibliothek zu büffeln, August.«
»Du hast eine ziemlich verrückte Syntax.«
»Die ist nicht verrückt, ich bin bloß ein bisschen dumm.«
»Ich muss im September einen ersten Entwurf meiner Doktorarbeit abgeben.«
»Und, hast du noch viel zu tun?«
»Ja. Im Moment sieht es so aus, als würde ich meinen gesamten Sommer in der Bibliothek verbringen. Und was ist mit dir? Was hast du jetzt vor?«
»Keine Ahnung. Ich habe keinen speziellen Plan. Vielleicht schaue ich mal in der East 6th oder 8th Street vorbei und warte ab, was passiert. Willst du vielleicht mitkommen?«
»Das ist ein verlockendes Angebot, aber ich muss wohl eigentlich wieder rein und ein bisschen weitermachen. Und, mal ganz abgesehen davon, wäre es nicht ein bisschen seltsam, wenn ich mit einem völlig Fremden, den ich gerade auf der Eingangstreppe der Bibliothek kennengelernt habe,
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