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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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Kommst du aus London?«
    »Nein. Ich bin in den Midlands aufgewachsen.«
    »Wo ist das denn?«
    »In der Mitte von England.«
    »Ah, wie der Name schon sagt.«
    »Postindustriell. Ziemlich eigenartiges Fleckchen. Nichts, was ich vermisse. Aber ich bin in einer eher armen, multikulturell geprägten Gegend aufgewachsen und darauf bin ich stolz. Ich habe schöne Kindheitserinnerungen, wie ich in den Siebzigern durch winzige Straßen zwischen Reihenhäusern gerannt bin.«
    »In den Siebzigern? Wie alt bist du denn?«
    »Achtunddreißigdreiviertel.«
    »Dann bist du älter, als ich gedacht hätte.«
    »Warum, für wie alt hast du mich denn gehalten?«, fragte ich hoffnungsvoll.
    »Hm, vielleicht siebenunddreißigeinviertel oder so«, erwiderte sie und ich ließ den Kopf hängen. »Tut mir leid, von einem jugendlichen Auftreten lasse ich mich nicht täuschen. Bist du verheiratet oder geschieden oder sonst irgendwas Interessantes?«
    »Nein. Ich habe nichts von dem, was man in meinem Alter so vorzuweisen haben sollte.«
    »Was sollte man in deinem Alter denn so vorzuweisen haben?«
    »Ach, keine Ahnung. Ein Haus, ein Auto, eine Karriere, die kein bisschen die eigenen Fähigkeiten oder Interessen widerspiegelt, eine Frau und/oder Exfrau, Kinder …«
    »Stimmt.« Sie nickte gespielt nachdenklich. »Du hast dein Leben wirklich verschwendet.«
    »Was würde ich nicht dafür geben, wenigstens geschieden zu sein.«
    »Mach lieber keine Witze über so was. Eine Scheidung ist die Hölle.«
    »Eine ganze Menge Sachen sind die Hölle. Aber das heißt nicht, dass man keine Witze darüber machen darf; vielleicht sollte man es sogar gerade deshalb.«
    »Tja … vielleicht.«
    »Sollen wir noch was zu trinken bestellen?«, schlug ich vor. »Oder sollen wir uns auf die Suche nach deinem New Yorker Schatz machen und dann vielleicht was essen?«
    Sie lächelte. »Gehen wir.«
    »Können wir einen Umweg über die Charles Street Nummer 15 machen, damit ich schon mal weiß, wo das ist?«
    Beatrice’ Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. »Okay«, sagte sie und ihr offensichtlicher Mangel an Begeisterung überraschte mich. Wir machten uns auf den Weg und sie ging extrem langsam, so als wäre sie mit einem Mal schrecklich erschöpft.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte ich mich.
    »Jaja«, erwiderte sie. Irgendetwas hatte sich verändert; das Licht oder der atmosphärische Druck oder vielleicht war es auch etwas anderes.
    »Hier ist es – Charles Street Nummer 15«, verkündete sie.
    Eine grüne Markise spannte sich über den Bürgersteig in Richtung Straße. Ich ging zur Tür und warf einen Blick durch die Scheibe. Ich sah eine lang gezogene Empfangshalle mit einem Tisch am gegenüberliegenden Ende, hinter dem ein Pförtner saß. Er blickte auf. Ich lächelte und trat vom Fenster zurück. Beatrice lehnte an der Wand und beobachtete mich.
    »Und?«, fragte sie.
    »Hier hat ihr Kindermädchen gewohnt«, erklärte ich ihr. »Und sie selbst auch.«
    »Woher weißt du das?«, wollte Beatrice wissen.
    »Die Frau mit dem Klavier hat gesagt, dass sie es aus der Charles Street hat, und laut Butterflys Notizbuch hatte ihr Kindermädchen ein Apartment im West Village. Hier ist es.«
    Beatrice schwieg und blickte weiter die Straße hinunter.
    »Von hier hat mir jemand die E-Mail geschickt«, behauptete ich.
    »Wieso bist du davon so überzeugt?«
    »Bin ich nicht unbedingt, es ist einfach der einzige Anhaltspunkt, den ich habe.«
    »Es ist doch nur eine Adresse«, entgegnete Beatrice, völlig unbeeindruckt.
    »Ich würde ja gerne reingehen und ein paar Fragen stellen, aber ich weiß nicht, welche.«
    Beatrice sah mich bloß an.
    »Fällt dir nicht vielleicht etwas ein?«, fragte ich.
    »Nein, tut mir leid.«
    »Dann muss ich wohl noch ein bisschen darüber nachdenken und später wiederkommen.«
    Wir fuhren mit dem Bus zum Union Square und nahmen dann die 4 hinunter zur Brooklyn Bridge. Dort stiegen wir aus.
    »Und wohin jetzt?«, fragte ich.
    »Nirgendwohin«, sagte Beatrice. »Wir warten hier.«
    »Worauf denn?«
    »Die Linie 6.«
    »Und wo fährt die hin?«
    »Nirgendwohin. Das hier ist die Endstation.«
    »Hä?«
    »Nachdem die Leute ausgestiegen sind, verschwindet der Zug in diese Richtung«, sie deutete die Gleise entlang, »dann fährt er ein paar Minuten später am Bahnsteig gegenüber ein und wieder nach Norden.«
    »Und?«
    » Und wenn man im Zug sitzen bleibt, während er seine Runde fährt, und aus dem Fenster guckt, erhascht man

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