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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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zwanzig nach drei stehen geblieben waren.
    Abgesehen von seiner ständigen Präsenz in meiner Kindheit, als es seinen Schatten über den Garten warf, in dem ich mir zum Wohle der Gemeinschaft zum ersten Mal die Hände schmutzig machte, und der Tatsache, dass es ein Ort der Bücher und des Lesens war, hatte dieses Gebäude eine besondere Bedeutung für das Leben der Frau, die mich aufgezogen hat.
    Gegen Ende des Jahres 1959 war Yutaka Sasaki von der Sumitomo Bank zusammen mit seiner Frau Kimiko und der achtzehnjährigen Tochter Keiko zu einer Cocktailparty in der 5th Avenue Nummer 51 eingeladen. Keiko erinnerte sich ganz deutlich daran, wie eine Frau zu dem stattlichen, Zigarre rauchenden Bürgermeister, Robert F. Wagner Junior, sagte: »Was wir uns wirklich zu Weihnachten wünschen, ist, dass die Uhr am Jefferson Courthouse wieder geht«, und damit den Ausschlag dafür gab, dass das Gebäude restauriert wurde und seine heutige Identität als Jefferson Market Library erhielt. Schließlich, am 15. März 1964, schlug die Uhr zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder, als Keiko Sasaki soeben mit der Nachricht von einem neuen Schatten auf dem Röntgenbild ihres Unterleibs vom Arzt kam, und läutete damit den Anfang vom Ende ihres Lebens ein. Verdammte Uhr, dachte sie. Warum ist sie nicht einfach auf zwanzig nach drei stehen geblieben, dann könnte ich glücklich und zufrieden weiterleben.
    Es ist eine sonderbar belebende Erfahrung, dir zu schreiben, Ben Constable, und ich würde wirklich gern noch ein wenig weiterplaudern. (Wusstest du, dass der kürzeste Briefwechsel aller Zeiten zwischen Victor Hugo und seinem Verleger stattgefunden hat? Anlässlich der Veröffentlichung seines Werks Les Misérables schickte Hugo ihm ein Telegramm, das nichts als ein Fragezeichen enthielt. Der Verleger antwortete mit einem einzigen Ausrufezeichen.) Doch wieder einmal erreiche ich den Punkt, an dem ich meine endlosen Ausschweifungen beenden und mich der Realität stellen muss. Den Hinweis zum nächsten Schatz findest du in einer Bibliothek, die mir sehr am Herzen liegt (Errätst du, welche?), in einem Buch, nach dem kein Hahn kräht, verfasst von einem Mann (oder vielleicht auch einer Frau) namens Wright.
    Für den Moment aber, mein Lieber, steht mir wieder einmal die traurige Aufgabe bevor, mich bis auf Weiteres von dir zu verabschieden, während du dich auf die Suche nach dem nächsten Zeugnis meiner grausigen Erinnerungen begibst. Auf bald …
    Mimsie
    Die Jefferson Market Library sah genauso aus, wie Tomomi Ishikawa sie beschrieben hatte. Und ich war tatsächlich schon ein paarmal daran vorbeigekommen, ohne von ihr Notiz zu nehmen, was ein weiterer Beweis (falls denn überhaupt noch welche nötig waren) für meine Angewohnheit war, selbst sehr große Dinge in meiner Umgebung einfach zu übersehen.
    Ich hatte Cat noch nie in einer Bibliothek erlebt und befand, dass er sich dort sehr gut machte. Sein Wissen auf dem Gebiet der Bibliotheksorganisation hielt sich jedoch in Grenzen und so starrte er mich auf meine Frage, nach welcher Art Buch wohl kein Hahn krähte, bloß an, setzte sich hin und begann, seine rechte Vorderpfote zu lecken. Es war mir furchtbar peinlich, mich damit an einen Bibliotheksmitarbeiter zu wenden, aber wie es aussah, blieb mir nichts anderes übrig.
    Der praktische Hühnerzüchter von Lewis Wright (Katalognummer 636.522) war, wie es mir schien, schon seit einigen Jahren nicht mehr aus dem Regal genommen worden. Ich fand nichts im Einband (weder vorne noch hinten), aber im letzten Drittel des Buches klebte ein dickes Bündel Seiten zusammen. Am Anfang und am Ende dieses Stapels waren ein paar Seiten noch ganz, doch mir wurde ziemlich schnell klar, dass jemand in die Blätter dazwischen ein Loch geschnitten und auf diese Weise ein geheimes (oder nicht ganz so geheimes, aber dafür zumindest nicht von außen sichtbares) Versteck geschaffen hatte. Cat sah mir interessiert zu. Ich zog Butterflys Kugelschreiber aus der Tasche (mehr aus Gewohnheit als aus irgendeinem anderen Grund) und bohrte ein kleines Loch in die rechte obere Ecke der Aushöhlung, dann zog ich ihn – bemüht, Wrights geschundenem Werk nicht noch mehr Schaden zuzufügen – nach unten, sodass er einen einigermaßen sauberen Schnitt hinterließ. In der Aussparung lag ein kleiner brauner Umschlag, in dem das winzigste Notizbuch steckte, das mir während dieser Schatzsuche bislang untergekommen war. Ich stellte den Hühnerzüchter zurück an seinen Platz und

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