Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
vergraben«, erklärte ich.
Chan sah mich neugierig an. »Was denn?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Tja, dann hoffe ich, dass es die Buddelei wert war.«
»Ja, ich auch.«
»Wollen Sie sich vielleicht die Hände waschen? Sie sehen aus, als könnten Sie ein bisschen Wasser und Seife vertragen.«
»Ja, danke.«
Chan führte mich zu einem Waschbecken, und während ich mir die verkrustete Erde von den Fingern schrubbte, bemerkte ich: »Ich frage mich, wie sie es geschafft hat, den Baum ganz allein aus der Wohnung zu holen und hier einzupflanzen. Der ist ja größer als sie selbst.«
»Sie hatte Hilfe dabei«, erwiderte Chan und zwinkerte mir zu.
Ich grinste ihn an. Am liebsten hätte ich ihm dafür gedankt, dass er ihr geholfen hatte, aber eigentlich ging mich die ganze Sache nichts an.
»Haben Sie gesehen, wie sie das hier dort vergraben hat?«, fragte ich und deutete mit dem Kinn auf das Päckchen.
»Ja.«
»Und haben Sie sich nie gewundert, was es sein könnte?«
»Ich habe sie gefragt.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Sie hat gesagt, es sei ein Geschenk für jemand Wichtigen. Anscheinend hat sie damit Sie gemeint.«
»Aber damals kannte sie mich noch gar nicht.«
»Oh. Vielleicht sollten Sie es dann lieber zurücklegen.«
Ich sah ihn an und dachte eine Weile nach. »Haben Sie nie mit dem Gedanken gespielt, es auszugraben?«
»Nein. Es war ja nicht für mich.«
»Aber waren Sie denn gar nicht neugierig, was es sein könnte?«
»Doch.«
»Es ist ein vollgeschriebenes Notizbuch. Eine Art Geschichte oder ein Tagebuch.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil es für mich ist. Hier, sehen Sie.« Ich riss die Plastikfolie auf, zog das Notizbuch heraus und reichte es Chan.
Ehrfurchtsvoll blätterte er es durch und begann zu lesen. Ich gab ein unwillkürliches Geräusch von mir und er blickte zu mir auf.
»Das könnte ziemlich privat sein«, erklärte ich entschuldigend. »Vermutlich handelt es von ihrem Vater.«
Schnell schlug er das Buch zu. »Tut mir leid. Das geht mich nichts an.«
»Schon in Ordnung. Ich wollte Ihnen nur zeigen, was es ist, damit Sie wissen, dass es für mich ist.«
»Ach so, keine Sorge. Ich weiß, dass es für Sie ist. Ich hätte Sie es nicht ausgraben lassen, wenn ich das nicht gewusst hätte.«
Jetzt war ich ehrlich beeindruckt.
»Hey«, sagte er, als wollte er das Thema wechseln. »Kennen Sie die junge Frau, die jetzt dort wohnt?«
»Wo?«
»In Butterflys Wohnung.«
»Nein.«
»Ach so, mir ist bloß aufgefallen, wie Sie ihr hinterhergeguckt haben, als sie gegangen ist. Ich dachte, Sie würden sie vielleicht kennen, das ist alles.«
»Ich kenne niemanden in New York.«
»Na ja, wenn Sie ein Freund von Butterfly sind, dann kennen Sie jetzt mich.«
21
D ADDY
Takeo Ishikawa (1942 – 2001)
Kurz vor seinem Tod drehte Daddy ein kleines bisschen durch. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen und auch nichts von ihm gehört. Nachdem Komori gestorben war, hatte ich versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, aber er reagierte nicht auf meine Anrufe. Meine Mutter hatte mir erzählt, er sei in die kalifornische Wüste gezogen und führe dort ein Einsiedlerleben. Dann, im Frühjahr 2001, rief er mich plötzlich aus heiterem Himmel an. Er sagte, er würde mich gern sehen, und ich willigte ein, ihn zu besuchen.
Ich buchte einen Flug nach Las Vegas und mietete dort ein Auto. Damit fuhr ich gen Nordwesten in die Mojave-Wüste, überquerte die kalifornische Grenze und gelangte in ein Städtchen namens Death Valley Junction – Einwohnerzahl: zwanzig (obwohl ich nur einen einzigen zu Gesicht bekam). Dort gab es ein Hotel, in dem ich mir unter falschem Namen ein Zimmer buchte, bevor ich bis Sonnenuntergang durch die Gegend streifte. Das einzige andere größere Gebäude war ein Theater mit dem Namen Armagosa Opera House. Dort gab es eine wöchentliche Vorstellung, geschrieben und präsentiert von der Besitzerin, einer alten Frau, die die Wände des Zuschauerraums mit Bildern eines riesigen Publikums bemalt hatte, sodass sie nie vor leerem Haus auftreten musste.
Am nächsten Morgen folgte ich, meiner Wegbeschreibung entsprechend, etwa eine Stunde dem Highway, bevor ich auf einen staubigen, bergauf führenden Weg abbog. Das Haus war schon von Weitem sichtbar: ein modernistisch anmutender Sechzigerjahre-Glaswürfel, der hoch über mir auf den Felsen thronte.
Der Weg endete auf der Rückseite des Hauses, wo sich ein kleiner Stellplatz befand, der im Moment leer war. Die Wände auf dieser
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