Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
ich dich als reale Person. Ich bin sicher, du hast einen Sinn für Menschen und ihre Gefühle. Für Kunst und Schönheit. Ich bin sicher, du strebst danach, Gutes zu tun, und hast verstanden, dass die Welt größer ist als dein Ego. Du bist anders als ich. Wenn ich schon nichts weiter erreicht habe, dann habe ich dir zumindest nicht meine krankhafte Angst vor dem Leben vererbt.« Seine Stimme begann, langsamer zu werden wie bei einer leiernden Musikbox.
»Möglicherweise sind wir uns ähnlicher, als du denkst. Hast du jemals einen Menschen getötet, Daddy?«
»Nein. Gott sei Dank nicht. Wenigstens ein Verbrechen, dessen ich mich nicht schuldig gemacht habe.«
»Ich habe sie getötet, das weißt du doch, oder? Komori. Ich habe ihr eine Überdosis Tabletten verabreicht.«
»Ich wusste nicht, wie du es gemacht hast, aber es war immer so geplant gewesen, dass du ihr Leben beenden würdest, wenn der Zeitpunkt gekommen war.«
»Ach, Scheiße, das wird ja immer schlimmer.«
»Butterfly. Ich liebe dich.« Seine Stimme klang zunehmend schleppender. »Weißt du, was das ist, Liebe?«
»Nein. Ich bin nicht mal sicher, ob es sie überhaupt gibt.«
»Das ist schade. Ich hoffe, du wirst sie eines Tages finden. Ich hoffe, du erlebst noch, wie wundervoll sie sein kann.«
»Wie überaus rührend. Aber eigentlich glaube ich, dass wir alle bloß Tiere sind, die versuchen, ihren eigenen Hintern zu retten oder das Überleben ihrer Spezies zu sichern. Wir sind nichts als ichbesessene Fleischklopse, die nach körperlicher Befriedigung gieren und durch irgendwelche chemischen Prozesse dazu getrieben werden, sich fortzupflanzen. Hormone, die Emotionen erzeugen, damit wir unsere Jungen beschützen. Habsucht und Neid. Das ist meiner Meinung nach Liebe. Wir halten uns für höhere Wesen, dabei sind wir genauso wie alle anderen Kreaturen Sklaven unseres triebhaften Körpers und aller möglichen Formen von Irrglauben. Das ist reine Chemie.«
»Vielleicht hast du recht.«
»Scheint zumindest so.«
»Hast du auch das Gefühl, dass wir gerade zum ersten Mal ein wirkliches Gespräch führen?«
»Kann sein.«
Und so entstand, ein paar Minuten vor seinem Tod, eine Art Verbindung zwischen mir und meinem Vater, und ich glaube, mehr hätte ich auch nicht verlangen können.
Ich durchsuchte die Küchenschränke und fand ein paar Kerzen. In einer Nische auf der Rückseite des Hauses entdeckte ich eine Ansammlung von Kanistern mit Propangas. Einen davon schleppte ich ins Haus und öffnete das Ventil.
»Bist du noch wach, Daddy?«, fragte ich.
»Mmmm.« Sein Kopf war zur Seite gesunken.
Ich zündete sämtliche Kerzen an und reihte sie außerhalb seiner Reichweite nebeneinander auf dem Tisch auf. Dann gab ich ihm einen Kuss auf den Kopf. »Mach’s gut, Daddy. Ich muss jetzt gehen.«
Ich stieg ins Auto und fuhr los.
Völlig unerwartet ging plötzlich ein regelrechter Wolkenbruch nieder; die Sonne schien weiter und ließ jeden einzelnen Tropfen erstrahlen. Daddy klopfte an die Tür eines Hauses, um Schutz vor dem Regen zu suchen. Er war noch ein Junge. Eine Frau öffnete. »Ich kann dich nicht reinlassen«, sagte sie, »gerade war ein wütender Fuchs hier und hat nach dir gesucht. Du hast die Füchse erzürnt. Geh zu ihnen und bitte sie um Entschuldigung.« – »Aber ich weiß doch gar nicht, wo sie wohnen«, weinte er. »An Tagen wie heute entstehen Regenbögen«, erklärte sie. »Füchse leben direkt unter den Regenbögen.« Und so stapfte er über eine Blumenwiese und ein leuchtend bunter Bogen spannte sich über den Himmel. Er roch den Regen und die Erde und Blumen in jeder Farbe. So viele schöne Blumen.
Das Haus war noch in Sichtweite. Ich hielt an, stieg aus dem Wagen und blickte zurück. Alles, was ich erkennen konnte, war eine verschwommene Spiegelung in der wabernden Hitze, dann stand es plötzlich in Flammen. Mein Magen zog sich zusammen und ich würgte, einen Moment lang strömten mir ungehindert Tränen übers Gesicht. Ein tiefes Grollen wallte über den Staub auf mich zu und ein dunkler Pilz stieg in den Himmel auf wie ein Rauchsignal. Ich wischte mir das Gesicht an meinem Oberteil ab und Energie erfüllte meinen Körper wie eine warme Flüssigkeit. Neben mir hielt ein Auto und die Fensterscheibe wurde heruntergelassen. Ein übergewichtiges, sonnengebräuntes Paar erkundigte sich, ob ich wisse, was dort los sei.
»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Ich habe bloß hier gestanden und da ist es auf einmal in die Luft
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