Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
Hausnummern achten. Sie kannte diesen Ort gut. Das hätte ich mir ja denken können.
Die Wände der Lobby hingen voller farbenfroher Gemälde. Ein gigantischer Pferdekopf starrte mich penetrant von der Seite an und über mir an der Decke hing eine Figur auf einer Schaukel.
»Die meisten sind Geschenke von irgendwelchen Künstlern, die ihre Hotelrechnungen nicht bezahlen konnten«, informierte Beatrice mich nebenbei.
Wir gingen an der Rezeption vorbei, hinter der ein Mann stand, der lächelte und Hallo sagte, dann bogen wir um eine Ecke und warteten auf den Aufzug.
»Wo wollen wir denn hin?«, fragte ich.
»Psst«, machte Beatrice. Erst als wir im Aufzug standen und sich die Türen hinter uns schlossen, sagte sie: »Aufs Dach.«
Im zehnten Stock stiegen wir aus und liefen ein paar Stufen hinauf bis zu einer Tür, an der ein Schild hing, das klar und deutlich besagte, dass der Durchgang verboten und die Tür mit einer Alarmanlage gesichert sei.
»Eigentlich ist das nicht erlaubt«, sagte Beatrice und öffnete die Tür.
»Was ist mit der Alarmanlage?«
»Es gibt keine Alarmanlage.«
»Woher weißt du das?«
»Ich kenne jemanden, der manchmal hier übernachtet.« Ihre Stimme klang leise und verhalten.
»Kanntest du den Typen an der Rezeption?«
»Vom Sehen.«
»Wieso bist du so sauer?«, fragte ich.
»Weil ich das Gefühl habe, dass mich jemand manipuliert.«
»Ach«, erwiderte ich. »Und wer?«
»Die Person, die dich hier hochgeschickt hat.«
»Butterfly?«
»Du hast doch gesagt, sie sei tot.« In ihrem Spott lag eine Spur von Bitterkeit.
»Ist sie auch.«
»Wie hättest du denn ohne mich den Weg aufs Dach finden sollen?«
»Ich bin ja wohl nicht komplett unselbstständig.«
»Ohne mich hättest du nicht mal von dem Hotel gewusst.«
Das Dach wurde durch Schornsteine, Rohre, Lüftungsschächte und ein Wasserreservoir in mehrere Abschnitte unterteilt. Einige davon waren in kleine Gärten verwandelt worden, während andere kahl geblieben waren. Der Ausblick zeigte ein völlig anderes New York. Ich konnte auf die Dächer niedrigerer Gebäude hinabschauen und befand mich auf derselben Höhe wie die Reservoire, die in jeder Richtung die Gebäudedächer zierten. Ich sah braune Hochhausblocks, wie die in der Nähe der Manhattan Bridge, und grauweiße Wolkenkratzer (darunter auch das Empire State Building) vor mir in den Himmel emporragen. New York wirkte von hier oben plötzlich viel größer und dreidimensionaler. Höher, schmutziger, älter, neuer.
»Ich muss einen kleinen Baum finden.«
»Dann solltest du dich am besten mal umsehen.«
»Ich will aber nicht in die Gärten. Das ist bestimmt nicht erlaubt.«
»Es ist noch nicht mal erlaubt, dass wir hier oben sind. Halte einfach Ausschau nach einem kleinen Baum. So schwer ist der nicht zu entdecken.«
»Du weißt also, wo er ist!«, rief ich vorwurfsvoll.
»Ich glaube schon.«
»Dann zeig ihn mir.«
»Nein. Du musst ihn selbst finden.«
»Ich will aber nicht.«
»Hmm. Es steckt ja ein richtiger kleiner Rebell in dir.« Ihre Stimme triefte jetzt vor Hohn.
»Zeig ihn mir.«
»Nein.«
»Dann lass uns wieder gehen.«
Plötzlich starrte sie mich an. »Was, im Ernst?«
»Jepp.«
»Und ich dachte, ich hätte schlechte Laune. Warum willst du nicht danach suchen?«
»Weil du weißt, wo er ist. Und ich habe keine Lust mehr auf diesen Quatsch. Es hat sich einfach zu viel direkt vor meiner Nase angesammelt, das ich nicht hinterfragt habe, Sachen, die ich hingenommen habe, damit das Spiel weitergehen konnte oder um dich nicht aufzuregen. Aber jetzt will ich nicht mehr; irgendjemand spielt mit mir . Ich bin vom Spielkameraden zum Spielzeug geworden. Du hast gerade gesagt, dass du das Gefühl hast, manipuliert zu werden, aber die Fragen, die ich mir verkniffen habe, richten sich alle an dich. Da ist so vieles, was ich nicht weiß, aber du schon, und du verrätst es mir nicht. Irgendetwas stimmt hier nicht. Du steckst hinter dem Spielchen, du bist diejenige, die manipuliert, auch wenn ich nicht weiß, warum.«
»Ich kann das nicht erklären. Ich wollte dich nicht an der Nase herumführen, ehrlich. Ich werde genauso manipuliert.« Ihre Stimme war leise und angespannt. »Zuerst hat es einfach Spaß gemacht, dir zu helfen. Es war lustig. Du bist lustig. Aber jetzt bin ich gegen meinen Willen in diese Geschichte mit hineingezogen worden. Und das gefällt mir nicht. Es bringt mich in eine unangenehme Situation, weil ich dich anlügen und Sachen vor dir
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