Die dreizehnte Gabe: Der Dunkle Wald (Die 13. Gabe) (German Edition)
als
sie noch aufbringen konnte. Marcel schüttelte den Kopf und
richtete seinen Blick wieder auf die Baustelle. »Dann gehen Sie
jetzt, sonst trag ich Sie persönlich zurück ins Lager«,
brummte er durch seinen Bart.
Sofie
nickte kurz und drehte sich um. Sie lief zurück durch eine
kleine schattige Schlucht. Ein kühler Wind umspielte ihr
schweißnasses Gesicht. Sie ächzte und lehnte
sich an die Felswand. Ihr war eingefallen, dass sie ihr Orfon
vergessen hatte. Sie nahm sich vor, sich am Abend, wenn sie wieder
nichts gefunden hatten, bei
ihrem Professor zu melden. Sie hatte keine Angst vor dem Professor,
eher ein schlechtes Gewissen. Er hatte sie während ihrer
gesamten Ausbildung unterstützt und gefördert, wo er nur
konnte. Am Schluss hatte er sich sogar dafür eingesetzt, dass
sie diese Expedition leiten durfte. Nun würde sie ohne
Ergebnisse zurückkehren.
Sofie,
du bist etwas Besonderes, ich bin mir sicher, nein, ich weiß
es, du wirst es zu etwas Großem schaffen, hatte er
zu ihr gesagt, als er sie am Wolkenwandlerdock verabschiedete. Tränen
hatten sich in seinen Augen gespiegelt. Fast wie ein Vater, der seine
Tochter verabschiedet.
Ein
Licht blitze jäh vor ihren Augen auf, bevor ihr Kopf im weichen
Sand aufschlug.
*
Etwas
hatte sich verändert. War sie zurück in Deutschland? Es war
plötzlich so kühl. Sie lag nicht mehr auf dem weichen
warmen Sand. Ihr Kopf lag auf einem harten Felsboden. Sofie öffnete
ihre Augen, alles drehte sich. Sie lag nicht in einem ihrer Zelte und
wusste nicht, wo sie war. Hatte sie jemand von der Baustelle
fortgetragen? Die schwach beleuchtete Felsmauer vor ihr drehte sich
nun langsamer und sie erkannte, dass jemand eine Kerze entzündet
hatte. Lag sie in einer Höhle? Die Felswand blieb endlich
stehen. Sofie wartete kurz, ehe sie sich aufraffte.
Keuchend
stellte sie sich auf, als eine weitere Welle von Schwindel ihrem
Körper die Standhaftigkeit raubte. Sie hielt sich an einem
steinigen Vorsprung fest. Erst da fielen ihr die goldenen Linien auf,
die sich spielerisch über die gesamte Wand schlängelten.
Mal waren es weite und mal enge Kurven, die sich sanft ihren Weg auf
der harten Felswand bahnten. Sie waren alle miteinander verbunden. Es
war ein atemberaubender Anblick. Die goldene Farbe leuchtete matt im
Kerzenschein. Befreit von ihrem Schwindel, fuhr Sofie mit dem Finger
eine dünne Linie nach.
»Wohl
wahr! Eine echte Wissenschaftlerin verliert jegliches Leiden bei
diesem Anblick.«
Sofie
erschrak bei diesen Worten, obwohl die Stimme sanft geklungen hatte.
Sie drehte sich um. Die Sprechweise war zu alt, um einem ihrer
Arbeiter zu gehören, selbst für Marcel.
»Wer
sind Sie?« Ihr Blick war durch die finstere Höhle
gehuscht, bis sie einen reglosen Mann in der Ecke stehen sah.
Eigentlich
saß er halb auf dem Felsvorsprung hinter ihm. Er wartete ruhig
und musterte Sofie interessiert. Sie hatte diesen Mann noch nie
gesehen. Er musste sehr alt sein. Ein Haarkranz, dessen lange
Strähnen an den Seiten und am Hinterkopf herunterhingen,
umkränzten eine spiegelnde Glatze. Sein Haar war dreckig grau.
Eine altmodische Brille lag auf seiner dicken Nase, seine Augenbrauen
wuchsen wild in alle Richtungen und sein hellblauer Mantel passte
nicht so recht zu seinem Äußeren. Sofie konnte mit aller
Sicherheit sagen, dass dieser Mann ein Magier war. Sie wusste nur
nicht, wie er es geschafft hatte, in diese Region zu kommen. Es
lebten zwar noch einige wenige Menschen in diesen Ruinen, doch dieser
Mann konnte keiner von ihnen sein. Seine Haut war von demselben
strahlenden Weiß wie ihre eigene.
»Wo
sind wir hier?« Ihre Neugier auf die Höhle war größer
als die gegenüber dem Mann. Die schimmernden Linien sahen sehr
bedeutungsvoll aus. Vielleicht genau das, was sie für ihre
Abschlussarbeit brauchte?
Der
alte Mann nickte kurz. »Das ist die Höhle der Legenden.«
Er ließ seinen Arm durch die Luft gleiten.
»All
diese Linien, die du sehen kannst, sind keine einfachen Ornamente
oder Verzierungen, es ist die Schrift der Wedier.«
Sofie
konnte nicht anders, als mit offenem Munde zu staunen. »Wedier,
so nannte man die Magier, die damals hier gelebt, vor über
fünfhundert Jahren Nefa errichtet und ihren eigenen Staat samt
Sprache erschaffen hatten. Vor fünfhundert Jahren, als Ayorweden
entstanden war.«
»Wie
ich sehe, kennst du dich gut mit der Geschichte unserer Welt aus«,
sagte der Mann und schmunzelte.
»Ich
– ich habe einiges gelernt«, erwiderte Sofie
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