Die Drenai-Saga 2 - Der Schattenprinz
uns?« fragte Melissa.
Pagan lächelte sie an; dann stand er auf und reckte sich. Die Bastarde würden inzwischen unterwegs sein, und er hatte keine Chance, ihnen zu entgehen, wenn er mit zwanzig Kindern im Schlepptau zu Fuß war. Er kletterte auf einen nahen Hügel und beschattete die Augen, um die Berge abzusuchen. Sie würden mindestens zwei Tage brauchen, um die Entfernung zu Fuß zu überwinden – zwei Tage in offenem Gelände. Er drehte sich um und sah den Jungen mit dem Messer hinter sich auf einem Stein sitzen. Er war groß und etwa elf Jahre alt.
»Du hast Melissas Frage nicht beantwortet«, sagte der Junge.
»Wie heißt du, mein Junge?«
»Ceorl. Willst du uns helfen?«
»Ich weiß nicht, ob ich kann«, erwiderte Pagan.
»Ich kann es nicht allein«, sagte Ceorl, die Augen fest auf Pagan gerichtet.
Pagan setzte sich ins Gras. »Versuch, mich zu verstehen, Junge. Es gibt so gut wie keine Möglichkeit, daß wir es bis zu den Bergen schaffen. Die Bastarde sind wie wilde Tiere im Dschungel. Sie folgen Spuren nach dem Geruch. Sie sind schnell und können weite Strecken zurücklegen. Ich muß Schwarzmaske eine Nachricht überbringen; ich bin auch in diesen Krieg verwickelt. Ich habe eine eigene Mission und habe geschworen, sie zu erfüllen.«
»Ausflüchte«, sagte Ceorl. »Nichts als Ausflüchte. Na gut, dann bringe ich sie eben selbst hin – glaub mir.«
»Ich bleibe eine Zeitlang bei euch«, sagte Pagan. »Aber sei gewarnt! Ich mag es nicht besonders, von plappernden Kindern umgeben zu sein – es macht mich reizbar.«
»Du kannst Melissa nicht den Mund verbieten. Sie ist noch sehr jung und sehr verängstigt.«
»Und du – hast du keine Angst?«
»Ich bin ein Mann«, sagte Ceorl. »Ich weine schon seit Jahren nicht mehr.«
Pagan nickte und erhob sich geschmeidig. »Laß uns die Vorräte holen und aufbrechen.«
Gemeinsam scharten sie die Kinder um sich. Jedes Kind trug einen kleinen Rucksack mit Proviant und eine Wasserflasche. Pagan hob Melissa und zwei weitere Kleinkinder auf das Pferd und führte sie hinaus auf die Ebene. Sie hatten den Wind im Rücken, und das war gut … es sei denn, vor ihnen lauerten die Bastarde.
Ceorl hatte recht, was Melissa betraf: Sie plapperte ununterbrochen und erzählte Pagan Geschichten, denen er kaum zu folgen vermochte. Gegen Abend begann sie im Sattel zu schwanken, und Pagan hob sie vom Pferd und nahm sie auf den Arm.
Sie hatten vielleicht fünf Kilometer zurückgelegt, als Ceorl zu Pagan gelaufen kam und ihn am Ärmel zupfte.
»Was ist los?«
»Sie sind sehr müde. Ich habe gerade gesehen, daß Ariane da hinten am Wegrand sitzt – ich glaube, sie ist eingeschlafen.«
»Na schön. Geh zurück und hole sie her, wir werden hier lagern.«
Die Kinder drängten sich um Pagan zusammen, während er Melissa ins Gras legte. Die Nacht war kühl, aber nicht kalt.
»Erzählst du uns eine Geschichte?« fragte das Mädchen.
Mit leiser Stimme erzählte er ihnen von der Mondgöttin, die über silberne Stufen zur Erde hinabstieg, um das Leben einer Sterblichen zu führen. Dort begegnete sie dem schönen Prinzen Anidigo. Er liebte sie, wie seitdem nie wieder ein Mann eine Frau geliebt hat, doch sie war scheu und floh vor ihm. In einer silbernen Kutsche, die völlig rund war, fuhr sie zum Himmel empor. Er konnte ihr nicht folgen und ging zu einem weisen Zauberer, der ihm eine Kutsche aus reinem Gold machte. Anidigo schwor, daß er nicht eher zurückkehren würde, als er das Herz der Mondgöttin gewonnen hatte. Seine goldene Kutsche war ebenfalls völlig rund und schwang sich wie ein strahlender Feuerball zum Himmel hinauf. Rund und rund um die Erde fuhr er, doch er konnte sie nie einholen. Bis heute nicht.
»Seht mal nach oben!« sagte Pagan. »Dort fährt sie – und bald wird Anidigo kommen, und sie flieht.«
Das letzte Kind fiel in einen traumlosen Schlaf, und Pagan ging zu Ceorl hinüber.
»Du kannst gut Geschichten erzählen.«
»Ich habe viele Kinder«, antwortete Pagan.
»Wenn sie dich so ärgern, warum hast du dann so viele?« fragte der Junge.
»Das ist nicht leicht zu erklären«, sagte Pagan grinsend.
»Oh, ich verstehe schon«, fuhr Ceorl auf. »So klein bin ich nicht mehr.«
Pagan versuchte es zu erklären. »Ein Mann kann seine Kinder lieben und sich trotzdem über sie ärgern. Eins von ihnen nimmt jetzt meinen Platz zu Hause ein und herrscht über mein Volk. Aber ich bin ein Mann, der stets auch das Alleinsein braucht. Kinder verstehen das
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