Die Drenai-Saga 4 - Der Bronzefürst
wieder die Schreie der Sterbenden und das Klirren von stählernen Klingen.
Tanaki kam zu ihnen. »Falscher Alarm«, sagte sie. »Sie ruht sich jetzt aus. Irgendwelche Anzeichen?«
»Nein«, antwortete Kiall. »Sie sitzen nur da und warten – ich weiß auch nicht worauf.«
»Sie warten auf Jungir Khan«, sagte Tanaki. »Sie wissen nicht, warum wir ihre Königin geraubt haben, aber sie wagen es nicht, etwas zu riskieren, das die Königin gefährden könnte. Jungir wird entscheiden, was zu tun ist.«
Sie ging zur Tür des Torturms und stieß sie auf. Kiall folgte ihr und stieg ebenfalls die zerborstenen Stufen zum Turm empor. Tanaki setzte sich und lehnte sich gegen die Mauer. »Nun«, sagte sie, »du hast deine Frau wiedergesehen.«
Er blickte auf sie hinunter, kniete nieder und nahm ihre Hand.
»Sie ist nicht meine Frau, Tanaki. Es war, als würde ich einen alten Freund wiedersehen. Ich bin in solchen Dingen nicht geschickt, aber ich … ich möchte dir noch etwas sagen, bevor wir …« Er brach hilflos ab.
»Bevor wie sterben?« murmelte Tanaki.
»Ja, bevor wie sterben. Du sollst wissen, daß ich dich liebe. Ich weiß, daß du nicht an Liebe glaubst. Aber ich würde lieber hier eine Nacht lang deine Hand halten, als hundert Jahre ohne dich leben. Hört sich das albern an?«
»Ja«, sagte sie, streckte die Hand aus und streichelte sein Gesicht, »aber es hört sich wunderbar albern an. Es hört sich wunderschön an.« Sie zog ihn an sich und drückte ihre Lippen auf die seinen. Kialls Arm umfing sie. »Möchtest du mich lieben?« flüsterte sie.
Er machte sich frei. »Ja. Aber nicht hier. Nicht an diesem Ort aus kaltem Stein, wo es nach Tod und Verbrechen riecht. Können wir nicht einfach dicht beisammensitzen?«
»Für einen Mann mit wenig Erfahrung findest du erstaunlich oft genau die richtigen Worte«, sagte Tanaki.
Hinter ihnen stieg die Sonne empor. Der Himmel war wolkenlos, mit rötlichen Streifen. »Es wird ein schöner Tag«, sagte Kiall.
Sie antwortete nicht.
Harokas sah sie vom Hof aus und seufzte. Dann erblickte er Asta Khan, der sich verstohlen aus den Soldatenunterkünften schlich. Er trug irgend etwas auf den Armen. Als Harokas gegen das Sonnenlicht blinzelte, sah er, daß der Schamane einen gebleichten Schädel hielt, den er in das Zimmer brachte, in dem Ravenna lag. Harokas beobachtete, wie der alte Mann hineinschlüpfte.
Der Meuchelmörder schlenderte zu Chareos hinüber. »Jetzt wäre ein günstiger Zeitpunkt, weiter nach Gothirland hineinzureiten«, sagte er.
Chareos schüttelte den Kopf. »Die Frau würde das Baby verlieren. Sie steht kurz vor der Niederkunft.«
Harokas seufzte. »Wenn wir bleiben, sterben wir alle. Und Frauen können ein zweites Mal empfangen, Chareos. Die Welt wird doch nicht in Finsternis versinken, falls sie dieses eine Kind verliert?«
»Das Kind ist etwas Besonderes«, beharrte Chareos. »Aber da ist noch mehr. Ich bin dazu bestimmt, hier zu sein, Harokas. Ich kann es nicht erklären – aber ich weiß seit vielen Jahren, daß hier mein Schicksal liegt.«
»Ich glaube, Asta Khan empfindet genauso. Ich habe vorhin gesehen, wie er einen alten Schädel in das Zimmer der Frau trug. Wahrlich, die Wege der Schamanen sind mir unverständlich – glücklicherweise.«
»Einen Schädel?« Okas’ Worte kamen ihm wieder in den Sinn.
»Warum sind Tenaka Khans Gebeine in Bel-Azar begraben?«
Chareos stand auf und stieg die verwitterten Stufen hinunter, überquerte den Hof und öffnete die Tür des alten Wachhauses. Ravenna schlief, doch am Fußende des Bettes saß Asta Khan mit überkreuzten Beinen, einen Schädel im Schoß.
»Was tust du hier?« fragte Chareos.
Der Schamane blickte auf. »Nichts, das der Frau schaden wird, Chareos. Du hast mein Wort.«
»Und das Kind?«
»Das Kind war nicht Teil des Handels. Aber die Frau wird ein gesundes Baby zur Welt bringen.«
»Was verschweigst du mir, Asta? Welche Schandtat planst du mit diesen … diesen Reliquien?«
»Reliquien? Wenn du eine Ahnung hättest, was diese Knochen …« Er hielt inne und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe meine Abmachung mit dir eingehalten, Schwertmeister. Du kannst mir nichts vorwerfen. Aber auch ich habe eine Aufgabe – und sie ist mehr wert als mein Leben.«
»Versprichst du mir, daß du Ravenna kein Leid zufügst – oder dem Kind?«
»Das Kind wird geboren«, sagte Asta mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Es wird kräftig zur Welt kommen und rasch wachsen. Er wird ein
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