Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
dich und hält dich am Leben. Beherrscht du sie nicht, verbrennt und zerstört sie dich.
Sie erwiderte mit ihren nußbraunen Augen starr den Blick der Löwin aus den gelbbraunen Lichtern. Dabei sah sie, daß das Tier in schlechter Verfassung war. Eine tiefe, häßliche Narbe zog sich über das rechte Vorderbein. Da es nicht mehr schnell laufen konnte, vermochte es das schnelle Wild nicht mehr zu jagen und litt Hunger. Es würde – konnte – diesem Kampf nicht ausweichen.
Miriel dachte an alles, was Vater ihr über Löwen erzählt hatte.
Nimm nicht den Kopf als Ziel – der Schädel ist zu dick, als daß ein Pfeil ihn durchdringen könnte. Ziele hinter das Vorderbein, nach oben in die Lunge.
Aber er hatte nichts darüber gesagt, wie sie gegen ein solches Tier kämpfen sollte, wenn sie nur mit einem Messer bewaffnet war.
Die Sonne glitt hinter einer Herbstwolke hervor, und das Licht glitzerte auf der Messerklinge. Sofort drehte Miriel die Klinge, so daß das Funkeln die Augen der Löwin traf. Der große Kopf drehte sich; die Augen blinzelten im grellen Strahl. Wieder brüllte Miriel.
Doch anstatt zu fliehen, griff die Löwin plötzlich mit einem wilden Satz das Mädchen an.
Für einen Moment war Miriel wie erstarrt. Dann fuhr das Messer hoch. Ein schwarzer Armbrustbolzen drang dem Tier knapp hinter dem Ohr in den Hals, ein zweiter in die Seite. Das Gewicht der Löwin traf Miriel und warf sie nach hinten, doch das Jagdmesser fuhr dem Tier in den Bauch.
Miriel lag ganz still, die Löwin auf ihr. Der stinkende Atem des Tieres schlug dem Mädchen ins Gesicht. Doch die Klauen zerfetzten sie nicht, die Zähne schlossen sich nicht um sie. Mit einem hustenden Grunzen starb die Löwin. Miriel schloß die Augen, holte tief Luft und wand sich unter dem Kadaver hervor. Ihre Beine waren zittrig, und sie setzte sich mit bebenden Händen auf den Pfad.
Ein großer Mann mit einer kleinen Doppelarmbrust aus schwarzem Metall tauchte aus dem Unterholz auf und kauerte sich neben sie. »Gut gemacht«, sagte er mit tiefer Stimme.
Sie blickte in seine dunklen Augen und lächelte gezwungen. »Sie hätte mich umgebracht.«
»Vielleicht«, gab er zu. »Aber dein Messer hat ihr Herz getroffen.«
Erschöpfung hüllte sie ein wie eine warme Decke, und sie legte sich zurück, atmete tief und langsam. Früher hätte sie die Löwin wahrgenommen, lange bevor irgendeine Gefahr drohte; aber diese Gabe war für Miriel jetzt verloren, wie auch die Mutter und ihre Schwester für sie verloren waren. Danyal war vor fünf Jahren bei einem Unfall umgekommen, und Krylla hatte im vergangenen Sommer geheiratet und war fortgezogen. Miriel verdrängte solche Gedanken und setzte sich. »Weißt du«, flüsterte sie, »ich war erschöpft und müde, als ich zum letzten Hügel kam. Ich atmete schwer, und meine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei. Doch als die Löwin angriff, war meine Müdigkeit wie weggeblasen.« Sie blickte zu ihrem Vater auf.
Er lächelte und nickte. »Das habe ich schon oft erlebt. Im Herzen eines Kämpfers läßt sich immer noch Kraft finden – und ein solches Herz läßt dich nur selten im Stich.«
Sie warf einen Blick auf die tote Löwin. »Ziele nie auf den Kopf – das hast du mir gesagt«, sagte sie und berührte den Bolzen, der aus dem Hals des Tieres ragte.
Er zuckte die Achseln und grinste. »Ich habe daneben geschossen.«
»Das ist nicht gerade tröstlich. Ich dachte, du wärst vollkommen.«
»Ich werde alt. Bist du verletzt?«
»Ich glaube nicht …« Rasch untersuchte sie ihre Arme und Beine, da Wunden von Klauen oder Zähnen eines Löwen sich oft entzündeten. »Nein. Ich hatte großes Glück.«
»Ja, das stimmt«, pflichtete er ihr bei. »Aber du hattest Glück, weil du alles richtig gemacht hast. Ich bin stolz auf dich.«
»Wieso warst du hier?«
»Du hast mich gebraucht«, antwortete er. Er erhob sich geschmeidig und streckte eine Hand aus, um sie hochzuziehen. »Jetzt häute das Tier und viertele es. Es gibt nichts besseres als Löwenfleisch.«
»Ich glaube nicht, daß ich es essen möchte«, sagte Miriel. »Ich würde es lieber vergessen.«
»Du darfst nie vergessen«, ermahnte er sie. »Dies war ein Sieg. Und er hat dich stärker gemacht. Wir sehen uns später.« Der große Mann sammelte seine Bolzen wieder ein, säuberte sie vom Blut und steckte sie zurück in den ledernen Köcher, der an seiner Seite hing.
»Gehst du zum Wasserfall?« fragte Miriel leise.
»Ein Weilchen«, antwortete er.
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