Eingesperrt - Jessica Daniel ermittelt (German Edition)
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Jessica Daniel drückte die Augen ganz fest zu. Wie sehr sie Morgenmenschen doch hasste! Für manche Leute bedeutete das Licht der Morgendämmerung, das sich seinen Weg durch viel zu dünne Gardinen bahnte, einen strahlend neuen Tag voller Möglichkeiten. Aber Jessica dachte nur, dass sie endlich ihren Vermieter bitten sollte, anständige Jalousien anzubringen.
Schließlich gab sie sich geschlagen, denn schlafen konnte sie ja doch nicht mehr. Sie tastete auf dem Nachttisch nach ihrem Handy. Das war jeden Morgen ihre erste Handlung, auch wenn ihr dadurch nur bewusst wurde, wie ereignislos ihr Leben verlief. Sie öffnete langsam die Augen und mühte sich mit der Sperrtaste ab, bevor sie auf den sogenannten Touchscreen einhämmerte. Das angeblich berührungsempfindliche Display reagierte nämlich nur, wenn man immer wieder heftig darauf einklopfte.
Sie hatte keine SMS erhalten, keine Anrufe verpasst; und die einzigen E-Mails in ihrem Posteingang versprachen eine anatomische Verbesserung, die ihr ohne einen vorherigen, äußerst radikalen und komplizierten operativen Eingriff nichts bringen würde.
Na toll.
Gerade als Jessica das Handy wieder auf den Nachttisch legen wollte, klingelte es. Sie verfluchte sich selbst, weil sie als Klingelton einen fröhlichen Popsong ausgewählt hatte, der ihr nicht einmal gefiel. Das muntere Geträller war so früh am Morgen wirklich kaum zu ertragen. Ihr Blickfeld war am Rand noch etwas verschwommen, aber sie konnte erkennen, dass der Anruf vonDetective Inspector Jack Cole kam. Jessica sah auf den Digitalwecker, der 06:51 Uhr anzeigte. Sie war sich ziemlich sicher, dass es Samstag war, was die Sache auch nicht besser machte.
Sie war erst acht Wochen zuvor zum Detective Sergeant befördert worden und wusste, dass sie sich an so etwas gewöhnen musste. Die unteren Dienstgrade hatten meistens regelmäßige Schichten. Aber in ihrer neuen Position würde sie wahrscheinlich öfter frühmorgens telefonisch aus dem Bett gescheucht.
»Hallo«, sagte Jessica und versuchte, möglichst nicht allzu verschlafen zu klingen.
Cole war anscheinend ebenfalls kein Morgenmensch, denn er hörte sich auch nicht viel fideler an als sie. Er sagte, ein »Riesending« sei passiert, aber Genaues wisse er auch nicht und sie solle sich eine Adresse aufschreiben.
Sie war unordentlich bis chaotisch, das gab sie ja gern zu, aber sie hatte in den letzten zwei Monaten gelernt, für solche Fälle immer Notizblock und Kuli griffbereit am Bett zu haben. Cole gab die Adresse durch, und sie versuchte, sie aufzuschreiben. Zuerst dachte sie, sie hätte noch Schlaf in den Augen, aber dann merkte sie, dass der Kuli nicht funktionierte.
»Sekunde, Sekunde«, sagte sie verärgert und suchte im Nachttischchen nach einem anderen Stift.
Nichts.
Typisch, dachte sie, sie gab sich solche Mühe, alles perfekt zu organisieren, aber es klappte trotzdem nicht. Sie bat den Inspector, ihr die Adresse per SMS zu schicken, und legte auf.
Cole war Jessicas direkter Vorgesetzter und gleichzeitig mit ihr befördert worden. Sie war immer gut mit ihm ausgekommen, auch vor der Beförderung. Er war ein anständiger Kerl, vielleicht ein bisschen zu nett. Und der totale Durchschnittstyp. Die Art von Mensch, bei der Zeugen immer Mühe haben, sie zu beschreiben: durchschnittlich groß, durchschnittliches Gewicht, braune Haare, ordentlicher Kurzhaarschnitt, normale, unauffällige Kleidung. Er trug keine Brille, hatte keine sichtbaren Narben und war glattrasiert. Auch seine Stimme hatte nichts Ungewöhnliches.
Das einzig Ungewöhnliche an ihm war etwas, das ihn von den meisten Polizisten unterschied: Er hatte ein ganz normales Familienleben. Er war Mitte vierzig, verheiratet, allem Anschein nach glücklich, und hatte zwei Kinder. Sie machten oft Familienausflüge, er ging immer noch mit seiner Frau essen und ins Kino und legte seine freien Tage gern so, dass sie mit der ganzen Bagage übers Wochenende wegfahren konnten. Außerdem trank er kaum und Jessica hatte ihn auch noch nie fluchen hören. All das war für andere Leute wahrscheinlich völlig normal, in ihrem Job aber ganz und gar nicht.
Cole versah seinen Dienst gern am Schreibtisch und versuchte, jeden näheren Kontakt mit Kriminellen, Zeugen oder anderen Personen außerhalb der Wache möglichst zu vermeiden. Manche glaubten, er wollte sich einfach die Hände nicht schmutzig machen, aber Jessica wusste, seine Stärken lagen woanders.
Sie saß auf der Bettkante und fuhr sich mit der
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