Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
Drenai.
Sie seufzte. Waylander würde ihr Land nicht kampflos durchqueren, wie sie wußte, und sie betete, daß er es unbeschadet überstehen würde.
Hinter den drei Gebäuden des Wirtshauses erhob sich der alte Bergfried in der Enge des Delnoch-Passes. Eindrucksvoll und stark wurde der Bergfried jetzt durch die neue Festung in den Schatten gestellt, die das ganze Tal ausfüllte. Miriel ließ ihren Blick über das ungeheure Bauwerk schweifen, mit seinen zinnenbewehrten Wehrgängen aus Granit, den massiven Tor- und Wachtürmen.
»Sie nennen es Egels Wahn«, sagte Angel, der an ihre Seite trat und ihr einen Becher mit Wasser verdünnten Wein reichte. Senta und Belash folgten ihm aus dem Wirtshaus und setzten sich zu Miriel ins Gras. »Jede der Mauern ist über zwanzig Meter hoch, und die Truppenunterkünfte können dreißigtausend Mann aufnehmen. Einige sind noch nie benutzt worden. Und werden es auch nie.«
»Ich habe noch nie so etwas gesehen«, flüsterte Miriel. »Von hier aus sehen die Wächter auf der ersten Mauer wie winzige Insekten aus.«
»Eine großartige Geldverschwendung«, sagte Senta. »Zwanzigtausend Arbeiter, tausend Steinmetze, fünfzig Architekten, Hunderte von Zimmerleuten. Und alles gebaut für einen Traum.«
»Einen Traum?« fragte Miriel.
Senta lachte leise und wandte sich an Belash. »Ja. Egel sagte, er hatte eine Vision von Belash und einigen seiner Brüder – ein wahrer Ozean von Kriegern, die sich gegen die Drenai zusammenscharten. Daher diese Monstrosität.«
»Sie wurde gebaut, um die Nadir fernzuhalten?« fragte Miriel ungläubig.
»Allerdings, Miriel«, antwortete Senta. »Sechs Mauern und ein Bergfried. Die größte Festung der Welt, um den kleinsten Feind in Schach zu halten. Denn kein einziger Nadirstamm zählt mehr als tausend Krieger.«
»Aber es gibt mehr als tausend Stämme«, betonte Belash. »Und der Mann, der die Stämme eint, wird sie zusammenführen. Ein Volk. Ein König.«
»Das sind die Träume aller armen Völker«, sagte Senta. »Die Nadir werden sich nie einen. Sie hassen einander ebenso, wie sie uns hassen, wenn nicht mehr. Sie liegen immer im Krieg miteinander. Und sie machen keine Gefangenen.«
»Das stimmt nicht«, zischte Angel. »Sie machen Gefangene – und dann foltern sie sie zu Tode. Männer, Frauen und Kinder. Sie sind verabscheuungswürdig.«
»Kein wahrer Nadir würde Kinder foltern«, widersprach Belash, dessen dunkle Augen zornig funkelten. »Sie werden rasch getötet.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe!« fuhr Angel auf. »Und komme nicht auf den Gedanken, mich einen Lügner zu nennen!«
Belashs Hand fuhr zu seinem Messer. Angels Finger schlossen sich um den Griff seines Schwertes. Miriel trat zwischen sie. »Wir werden nicht untereinander kämpfen«, sagte sie und legte die Hand auf Angels Arm. »In allen Völkern steckt Böses, aber nur ein törichter Mann verdammt ein ganzes Volk.«
»Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe!« begehrte Angel auf.
»Doch, das habe ich«, sagte sie leise. »Die umgestürzten Wagen, die Plünderung und den Tod. Und ich kann deinen Vater sehen, der den Arm um dich geschlungen hat und dir seinen Mantel vor die Augen hält. Es war ein schlimmer Tag, Angel, aber du mußt dich davon lösen. Die Erinnerung vergiftet dich.«
»Halt dich aus meinem Kopf raus!« brüllte er plötzlich, riß sich von ihr los und marschierte zum Wirtshaus.
»Er trägt Dämonen in seiner Seele«, sagte Belash.
»Das tun wir alle«, fügte Senta hinzu.
Miriel seufzte. »Er war erst neun Jahre alt, als er den Angriff miterlebte, und seit damals verfolgen ihn die Schreie. Aber er sieht nicht mehr die Wahrheit – vielleicht hat er es nie getan. Der Umhang seines Vaters hat ihm die schlimmsten Anblicke erspart, und er weiß nicht mehr, daß bei dem Überfall auch Männer beteiligt waren, die nicht zu den Nadir gehörten. Sie trugen dunkle Umhänge, und ihre Waffen waren aus geschwärztem Stahl.«
»Ritter des Blutes«, sagte Belash.
Miriel nickte. »Ich glaube auch.«
Belash stand auf. »Ich werde mir diese Festung einmal ansehen.«
Er ging davon, und Senta setzte sich neben Miriel. »Es ist schön, allein zu sein«, meinte er.
»Du stellst dir vor, wie ich auf Seidenlaken auf einem Bett liege. Das gefällt mir nicht.«
Er grinste. »Es ist unhöflich, die Gedanken anderer Leute zu lesen.«
»Macht es dir nichts aus, daß ich weiß, was du denkst?«
»Überhaupt nicht. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen müßte. Du
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