Die dritte Jungfrau
gehört?«
»Ja.«
»Das war sie, Jean-Baptiste. Claire Langevin. Sie sucht dich.«
»Ja, genau das wolltest du uns weismachen. Ich sollte über diese nächtlichen Besuche sprechen, sollte den Mythos der Krankenschwester am Leben erhalten, die herumstreunt und bald wieder zuschlagen wird. Und das hätte sie durch deine Hand ja auch tatsächlich getan, mit Spritze und Skalpell. Weißt du, warum ich mir darüber überhaupt keine Gedanken gemacht habe? Nein, das weißt du mit Sicherheit nicht.«
»Du solltest es aber. Sie ist gefährlich, ich habe dich oft genug gewarnt.«
»Weil ich nämlich bereits ein Gespenst in meinem Haus hatte, Ariane. Die heilige Clarisse. Da siehst du, wie aberwitzig das alles ist.«
»Erschlagen von einem Gerber, im Jahre 1771«, setzte Danglard hinzu.
»Mit seinen Fäusten«, ergänzte Adamsberg. »Verlier nicht deinen Faden, Ariane, du kannst nicht alles wissen. Jedenfalls dachte ich, Clarisse liefe auf dem Dachboden umher. Beziehungsweise der alte Lucio würde seine Runde drehen. Auch der hat seine Macken, und keine unbedeutenden. Wenn der kleine Tom bei mir schlief, machte er sich jedesmal große Sorgen. Aber sie war es nicht. Du warst es, die da oben langlief.«
»Sie war es.«
»Du wirst nie reden, nicht wahr, Ariane? Von Omega?«
»Niemand spricht von Omega. Ich dachte, du hättest mein Buch gelesen.«
»Bei manchen Dissoziierten, hast du geschrieben, kann sich ein Spalt öffnen.«
»Nur bei den unvollkommenen.«
Adamsberg dehnte das Verhör bis weit in die Nacht aus. Man hatte Romain zum Schlafen in den Raum mit dem Getränkeautomaten geleitet und Estalère auf ein Feldbett. Danglard und Veyrenc unterstützten den Kommissar durch das Kreuzfeuer ihrer Fragen. Ariane blieb Alpha, selbst als sie müde wurde; sie leistete keinerlei Widerstand gegen die endlose Sitzung, und auch was Omega betraf, leugnete sie nichts, noch verstand sie irgend etwas.
Um vier Uhr vierzig morgens stand Veyrenc hinkend auf und kam mit vier Bechern Kaffee zurück.
»Ich trinke meinen Kaffee mit ein wenig Mandelmilch«, erklärte Ariane freundlich, ohne sich zum Tisch zu drehen.
»So was haben wir nicht«, meinte Veyrenc. »Mixturen können wir hier nicht herstellen.«
»Schade.«
»Ich weiß nicht, ob sie im Gefängnis Mandelmilch haben«, murmelte Danglard vor sich hin. »Der Kaffee dort ist Hundeplörre und das Essen Rattenfraß. Die verpflegen die Gefangenen mit Dreck.«
»Warum, zum Teufel, erzählen Sie mir was vom Gefängnis?« fragte Ariane, die mit dem Rücken zu ihm saß.
Adamsberg schloß die Augen und betete zur dritten Jungfrau, sie möge ihm zu Hilfe eilen. Doch zur Stunde schlief die dritte Jungfrau unter sauberen blauen Laken in einem modernen Hotel in Évreux und wußte nichts von den Schwierigkeiten ihres Retters. Veyrenc trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse mit einer mutlosen Geste ab.
»Kämpft nicht länger, Seigneur.
Mit Kraft und List gewannt’ Ihr manche schwere
Schlacht,
es fielen Wälle, Mauern durch Eure sanfte Macht.
Doch diese hohe Wand wird wohl auf ewig stehn,
denn sie heißt Wahn, und daß sie wankt, wird nie
geschehn.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Veyrenc«, sagte Adamsberg, ohne die Augen zu öffnen. »Führen Sie sie ab. Sie, ihre Wand, ihre Mischungen und ihren Haß, ich will sie nicht mehr sehn.«
»Sechs Versfüße«, bemerkte Veyrenc. » Ich will sie nicht mehr sehn. Gar nicht mal schlecht.«
»Wenn das so ist, Veyrenc, wären sämtliche Bullen Dichter.«
»Wäre es doch so«, meinte Danglard.
Ariane klappte geräuschvoll ihr Feuerzeug zu, und Adamsberg öffnete die Augen.
»Ich muß bei mir zu Hause vorbeischauen, Jean-Baptiste. Ich weiß nicht, was du vorhast, und auch nicht, warum, aber ich habe genug Berufserfahrung, um es zu ahnen. Untersuchungshaft, nicht wahr? Ich werde also ein paar Sachen holen müssen.«
»Wir werden dir alles Nötige bringen.«
»Nein. Ich hole sie selbst. Ich will nicht, daß deine Beamten meine Kleider angrapschen.«
Zum erstenmal wurde Arianes Blick, den Adamsberg nur von der Seite sah, hart und angsterfüllt. Sie selbst hätte diagnostiziert, daß Omega zum Angriff überging. Weil Omega etwas tun mußte, etwas Lebenswichtiges.
»Sie begleiten dich, während du deinen Koffer packst. Sie werden nichts anfassen.«
»Ich will sie nicht dabei haben, ich will allein sein. Das ist was Persönliches, was Intimes. Du kannst das verstehen. Falls du Angst hast, ich könnte abhauen, kannst du ja zehn
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