Die dritte Jungfrau
los. Der frißt sich wie eine Zecke in die Haut. Die Zecke reißt man heraus, aber die Beine bleiben drin stecken und bewegen sich weiter.«
Ungefähr wie Lucios Spinne, ergänzte Adamsberg für sich.
»Sie kennen ja nun ein paar Typen von hier, wer, glauben Sie, hat ihr geraten, mit Ihnen zu sprechen?«
»Ich weiß nicht, Veyrenc. Vielleicht gar niemand. Wahrscheinlich hat sie sich wegen des Schattens Sorgen um ihren Sohn gemacht. Ich glaube, seit den Ermittlungen zu Amadeus’ Tod hat sie eine Heidenangst vor Gendarmen. Oswald wird ihr von mir erzählt haben.«
»Denken die Leute, sie hätte ihre beiden Männer umgebracht?«
»Sie glauben es nicht wirklich, aber sie fragen es sich. Mit eigener Hand oder mit Gedanken umgebracht. Bevor wir zurückfahren, schauen wir auf dem Friedhof vorbei.«
»Um was dort zu suchen?«
»Wir versuchen herauszufinden, was Oswalds Schatten gemacht hat. Ich habe dem jungen Mann versprochen, mich darum zu kümmern. Aber Robert sprach nicht von einem Schatten, er sprach von ›der Sache‹, und Hermance sagt, daß es den Friedhof verdreckt. Oder aber wir versuchen etwas anderes.«
»Was?«
»Dahinterzukommen, warum man mich hergelockt hat.«
»Wenn ich mich nicht ans Steuer gesetzt hätte«, wandte Veyrenc ein, »wären Sie gar nicht hier.«
»Das weiß ich, Lieutenant. Es ist nur so ein Eindruck.«
Ein Schatten, dachte Veyrenc.
»Oswald soll seiner Schwester einen Welpen geschenkt haben«, sagte er. »Und der soll gestorben sein.«
In jeder Hand eine Geweihstange, lief Adamsberg die grasbewachsenen Wege auf dem kleinen Friedhof ab. Veyrenc hatte ihm seine Hilfe angeboten und wollte ihm eine der Stangen abnehmen, aber Robert hatte ganz klar gesagt, daß man sie niemals trennen dürfe. So machte Adamsberg seinen Rundgang durch das Gelände, darauf bedacht, daß er mit den Kronen nicht gegen die Grabsteine stieß. Der Friedhof war armselig und nur notdürftig gepflegt, aus dem Kies sproß das Gras. Hier besaßen die Leute nicht immer die Mittel, um eine Grabplatte zu bezahlen, und so bestanden etliche Gräber nur aus Erde, auf manchen steckte ein Holzkreuz, auf dem in weißer Schrift ein Name stand. Die Gräber der beiden Männer von Hermance waren in den Genuß einer schmalen Deckplatte aus Kalkstein gekommen, die heute grau und ohne Blumen dalag. Er wollte gehen, verweilte dann aber doch noch einen Augenblick und genoß einen ersten Frühlingssonnenstrahl, der sich verwegen in seinen Nacken schlich.
»Wo hat der junge Gratien die Gestalt gesehen?« fragte Veyrenc.
»Dort irgendwo«, zeigte Adamsberg.
»Und was sollten wir uns ansehen?«
»Ich weiß es nicht.«
Veyrenc nickte, er schien nicht verärgert. Vorausgesetzt, die Rede kam nicht aufs Gave-Tal, war der Lieutenant außerstande, sich aufzuregen oder ungeduldig zu werden. Hierin glich der falsche Vetter ihm ein wenig, er nahm alles Unwahrscheinliche oder Schwierige ebenso gelassen hin wie er. Und auch er hielt den Nacken in die milde Wärme, darauf bedacht, so lange wie möglich hier im feuchten Gras herumzubummeln. Adamsberg ging um die kleine Kirche herum und sah das klare Licht des Frühlings, wie es sich im Schiefer des Dachs und auf dem feuchten Marmor glänzend brach.
»Kommissar«, rief Veyrenc.
Adamsberg ließ sich Zeit, während er zu ihm zurücklief. Das Licht spielte mit Veyrencs rotfunkelndem Haar. Wäre diese Buntscheckigkeit nicht das Resultat einer Folter gewesen, Adamsberg hätte sie für sehr gelungen gehalten. Schönheit, aus Leid hervorgegangen.
»Wir wissen nicht, wonach wir suchen«, sagte Veyrenc und zeigte auf ein Grab, »aber auch diese Frau hier hatte kein Glück. Gestorben mit achtunddreißig Jahren, fast wie Élisabeth Châtel.«
Adamsberg betrachtete die Grabstätte, ein noch frisches Rechteck ganz aus Erde, das auf seine Grabplatte wartete. Langsam dämmerte ihm, was der Lieutenant sagen wollte, denn er hatte ihn sicher nicht ohne Grund gerufen.
»Der Gesang der Erde, hören Sie ihn?« sagte Veyrenc.
»Und sehen Sie, was er uns sagen will?«
»Wenn Sie das Gras auf dem Grab meinen, ich sehe es. Ich sehe die kurzen Halme, ich sehe die langen Halme.«
»Man könnte sich vorstellen, aber nur, wenn man sich etwas vorstellen wollte, daß die kürzeren Halme erst später gewachsen sind.«
Die beiden Männer schwiegen und fragten sich im gleichen Augenblick, ob sie sich etwas vorstellen wollten oder nicht.
»In Paris wartet man auf uns«, meinte Veyrenc zu sich selbst.
»Man
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