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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Aber er weiß offenbar, was er tut. Normalerweise irrt Robert sich nicht.«
    »Dann stehen die Dinge also gar nicht so schlecht«, meinte Adamsberg lächelnd.
    »Eigentlich nicht.«
    »Und weiter, Oswald?«
    »Wie ich schon sagte. Dann hat er den Schatten gesehen.«
    »Erzähl schon.«
    »Eine Art lange Frau, falls man so was Frau nennen kann, grau, vollkommen eingehüllt, ohne Gesicht. Der Tod eben, Béarner. Vor meiner Schwester würde ich das so nicht erzählen, aber wir sind ja unter Männern, da kann man die Dinge ruhig beim Namen nennen. Oder etwa nicht?«
    »Doch.«
    »Also sagen wir’s ruhig. Der Tod, eine Schattenfrau. Sie lief nicht wie unsereins. Sie glitt über den Friedhof, ganz aufrecht und langsam. Hatte es nicht gerade eilig, die, lief so Schritt für Schritt.«
    »Trinkt dein Neffe?«
    »Noch nicht. Bloß weil er mit diesem Mädel schläft, ist er ja nicht gleich ein Mann. Man müßte rauskriegen, was sie gemacht hat, die Schattenfrau, ich kann’s dir nicht sagen. Man müßte rauskriegen, wen sie holen wollte. Hinterher haben wir drauf gewartet, daß wer stirbt im Dorf. Aber es ist nichts passiert.«
    »Hat er noch was anderes gesehen?«
    »Vom Acker gemacht hat er sich und ist schnurstracks nach Hause gerannt. Versetz dich mal in seine Lage. Wieso ist sie hierhergekommen, Béarner? Wieso zu uns?«
    »Ich weiß es nicht, Oswald.«
    »Der Pfarrer sagt, 1809 ist so was schon mal vorgekommen, und das war genau in dem Jahr, wo es keine Äpfel gab. Die Zweige waren kahl wie mein Arm.«
    »Hatte das keine anderen Folgen? Abgesehen von den Äpfeln?«
    Oswald warf Adamsberg erneut einen kurzen Blick zu.
    »Robert sagt, du hättest die Schattenfrau auch gesehen.«
    »Ich habe sie nicht gesehen, ich habe bloß an sie gedacht. Es ist wie ein Schleier, eine düstere Wolke, vor allem, wenn ich in der Brigade bin. Ein Arzt würde sagen, ich bilde mir was ein. Oder ich komme nicht los von einer schlechten Erinnerung.«
    »Die Herren Doktoren wollen so was einfach nicht verstehen.«
    »Sie haben vielleicht gar nicht so unrecht damit. Es kann durchaus ein trüber Gedanke sein, der mir einfach nicht aus dem Kopf geht, der immer noch hier drin ist.«
    »Wie das Hirschgeweih, bevor es wächst.«
    »Genau«, sagte Adamsberg und lächelte plötzlich.
    Die Vorstellung gefiel ihm sehr, löste sie doch fast das Rätsel um seine Schattenfrau. Das Gewicht eines schweren Gedankens, der bereits komplett in seinem Geist vorhanden war, es aber noch nicht nach draußen geschafft hatte. Eine Geburt, gewissermaßen.
    »Ein Gedanke, der dich nur in deiner Brigade befällt«, fuhr Oswald in seiner Überlegung fort. »Hier zum Beispiel befällt er dich nicht.«
    »Nein.«
    »Dann kommt es daher, daß sich irgendwas in deine Brigade eingeschlichen hat«, erklärte Oswald mit pantomimischer Untermalung. »Und die Sache ist in deinen Schädel rein, weil du der Chef bist. Eigentlich logisch.«
    Oswald trank seinen Calvados aus.
    »Oder weil du es bist«, fügte er hinzu. »Ich habe dir den Jungen mitgebracht. Er wartet draußen.«
    Keine Wahl. Adamsberg folgte Oswald hinaus in die Dunkelheit.
    »Du hast deine Schuhe nicht wieder angezogen«, bemerkte Oswald.
    »Es ist angenehm so. Gedanken können auch durch die Fußsohlen fließen.«
    »Wenn das stimmen würde«, sagte Oswald mit dem Anflug eines Lächelns, »wäre meine Schwester vollgepfropft mit Gedanken.«
    »Und, trifft das denn nicht zu?«
    »Um die Wahrheit zu sagen, sie ist lieb, daß es einem Ochsen die Tränen in die Augen treibt, aber im Kopf drin hat sie nichts. Trotzdem ist sie meine Schwester.«
    »Und Gratien?«
    »Kein Vergleich, er kommt nach dem Vater, der war schlau wie ’n Fuchs.«
    »Und wo ist er, sein Vater?«
    Oswald verschloß sich und zog die Fühler in sein Schneckenhaus ein.
    »Hat Amadeus deine Schwester verlassen?« hakte Adamsberg nach.
    »Woher weißt du, wie er heißt?«
    »Das stand auf einem Foto in der Küche.«
    »Amadeus ist tot. Das war früher. Wir reden hier nicht darüber.«
    »Warum nicht?« fragte Adamsberg, der den Wink überhörte.
    »Wieso interessiert dich das?«
    »Man kann nie wissen. Bei dem Schatten, verstehst du? Man muß an alles denken.«
    »Vielleicht«, gab Oswald zu.
    »Mein Nachbar sagt, die Toten gehen nicht fort, wenn sie ihr Leben nicht zu Ende gelebt haben. Sie jucken die Lebenden noch jahrhundertelang.«
    »Willst du damit sagen, Amadeus hatte sein Leben nicht zu Ende gelebt?«
    »Das weißt nur du.«
    »Eines Nachts kam er

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