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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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von einer Frau zurück«, erzählte Oswald mit einigem Zögern. »Er hat ein Bad genommen, damit meine Schwester nichts merkt. Und dabei ist er ertrunken.«
    »In der Badewanne?«
    »Ich sag’s dir doch. Es überkam ihn ein Unwohlsein. Und in einer Badewanne ist allemal Wasser drin, oder nicht? Und wenn dein Kopf unter Wasser ist, kannst du da ebensogut draufgehen wie in einem Tümpel. Das hat meiner Schwester vollends den Verstand geraubt.«
    »Hat man die Sache untersucht?«
    »Zwangsläufig. Wochenlang sind sie allen hier wie die Scheißhausfliegen auf den Wecker gefallen. Du kennst ja die Bullen.«
    »Verdächtigten sie deine Schwester?«
    »Sie haben sie verrückt gemacht, ja. Die Arme. Nicht mal einen Korb Äpfel kann sie hochheben. Und dann soll sie einen Schrank wie Amadeus in der Badewanne ertränkt haben, also ich bitte dich. Zumal sie völlig vernarrt war in diesen Trottel.«
    »Du sagtest doch, er sei schlau wie ein Fuchs gewesen.«
    »Und du, Béarner, bist auch nicht gerade der Hellste, was?«
    »Erklär’s mir.«
    »Er ist nicht der Vater von dem Kleinen. Gratien ist von dem davor, vom ersten Ehemann. Der auch gestorben ist, wenn du’s wissen willst. Zwei Jahre nach der Hochzeit.«
    »Wie hieß er?«
    »Le Lorrain. Er kam nicht aus der Ecke hier. Er hat sich die Sense in die Beine gehauen.«
    »Sie hatte nicht gerade Glück, deine Schwester.«
    »Das kann man wohl sagen. Deshalb macht sich hier auch keiner über ihre Schrullen lustig. Sie hat ein Recht darauf, wenn’s ein Trost für sie ist.«
    »Natürlich, Oswald.«
    Der Normanne nickte, erleichtert darüber, daß dieses Thema beendet war.
    »Was ich dir gerade erzählt habe, mußt du aber nicht unbedingt in deinem Gebirge herumposaunen. Das ist eine Geschichte, die in Opportune bleiben soll. Wir haben vergessen, und damit basta.«
    »Ich sage nie was, Oswald.«
    »Kennst du keine solchen Geschichten, die in deinem Gebirge bleiben sollen?«
    »Ich kenne eine, ja. Aber im Augenblick kommt sie gerade heraus.«
    »Das ist nicht gut«, meinte Oswald kopfschüttelnd. »Es fängt klein an, und am Ende ist’s ein Drache, der aus seiner Höhle kriecht.«
     
    Oswalds Neffe, dessen Wangen wie die seines Onkels mit Sommersprossen übersät waren, stand mit krummem Rücken vor Adamsberg. Er getraute sich nicht, dem Kommissar aus Paris keine Antwort zu geben, aber der Test war strapaziös für ihn. Mit gesenkten Augen erzählte er von der Nacht, in der er den Schatten gesehen hatte, und sein Bericht stimmte mit dem von Oswald überein.
    »Hast du das deiner Mutter erzählt?«
    »Ja, natürlich.«
    »Und sie wollte, daß du mit mir darüber redest?«
    »Ja. Nachdem Sie zu dem Konzert gekommen waren.«
    »Weißt du, warum?«
    Der Junge verschloß sich plötzlich.
    »Die Leute reden dummes Zeug«, sagte er. »Meine Mutter hat ihre eigenen Vorstellungen, man muß sie bloß verstehen, das ist alles. Und der Beweis ist ja, daß es Sie interessiert.«
    »Deine Mutter hat recht«, sagte Adamsberg, um den jungen Mann zu beruhigen.
    »Jeder drückt sich auf seine Art aus«, beharrte Gratien. »Und keine Art ist mehr wert als eine andere.«
    »Nein, keine einzige«, bestätigte Adamsberg. »Eine Sache noch, dann laß ich dich in Ruhe. Mach die Augen zu. Und sag mir, wie ich aussehe und was ich anhabe.«
    »Wirklich?«
    »Wenn der Kommissar dich drum bittet«, schaltete Oswald sich ein.
    »Sie sind nicht sehr groß«, begann Gratien zaghaft, »nicht größer als mein Onkel. Mit braunen Haaren … Muß ich alles sagen?«
    »Soviel du kannst.«
    »Nicht sehr ordentlich gekämmt, ein Teil über die Augen, die anderen nach hinten. Eine große Nase, braune Augen, eine schwarze Jacke aus Leinen, mit vielen Taschen, die Ärmel hochgekrempelt. Die Hose … auch schwarz, ziemlich abgewetzt, und Sie sind barfuß.«
    »Hemd? Pullover? Schlips? Konzentrier dich.«
    Gratien schüttelte den Kopf und kniff seine geschlossenen Augen zusammen.
    »Nein«, sagte er in entschiedenem Ton.
    »Was dann?«
    »Ein graues T-Shirt.«
    »Mach die Augen wieder auf. Du bist ein perfekter Zeuge, das kommt sehr selten vor.«
    Der Halbwüchsige lächelte, die erfolgreich bestandene Prüfung machte ihn locker.
    »Und dabei ist es dunkel«, fügte er stolz hinzu.
    »Genau.«
    »Glauben Sie mir nicht? Wegen dem Schatten?«
    »Manchmal verzerrt man unklare Erinnerungen im nachhinein. Was, glaubst du, hat der Schatten deiner Meinung nach gemacht? Ging er spazieren? Schwebte er aufs Geratewohl da

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