Die Drohung
betrachtete wohlgefällig die ausgestellten Bilder. Eine niederländische Landschaft um 1737, gemalt von Hendrik Vermeulen, und einen Pferdekopf, Kaltnadelradierung von Thomas Quicker.
Es schien, als ob der Mann etwas von Kunst verstünde.
München
Im Besprechungszimmer des Polizeipräsidiums wogten die Rauchwolken. Mineralwasserflaschen und Gläser, gefüllte Aschenbecher und Notizblocks, Kaffeetassen und ein einziger, einsamer, riesiger Bierkrug, eine ›Maß‹, bedeckten den langen Tisch. Der Krug gehörte Kriminalrat Beutels; daneben lag eine lange Brasilzigarre, halb geraucht, nun erloschen. Ein verflucht schlechtes Zeichen.
Die Sonderkommission aus Wiesbaden war eingetroffen und hatte ihre Arbeit aufgenommen. Oberkommissar Abels saß neben Oberstaatsanwalt Dr. Herbrecht am Kopfende des Tisches, am anderen Ende, präsidierend, finster dreinblickend, hatte der Polizeipräsident Platz genommen. Zwei Herren vom Bundesnachrichtendienst, vier Herren vom Amt für Verfassungsschutz, drei Offiziere des militärischen Abschirmdienstes und vier Mitglieder des Nationalen Olympischen Komitees umringten den Tisch. Der Oberbürgermeister von München, der Bundesinnenminister und neben ihm der plötzlich sehr stille Beutels bildeten einen Block in der Mitte. Eine erlauchte Gesellschaft.
Es war Dienstag, der 4. April. Vormittags 11 Uhr. Der zweite Brief war vor einer halben Stunde von einem Boten der Olympiageschäftsstelle abgegeben worden. Schon die Absenderangabe auf dem Kuvert ließ den Präsidenten fahl im Gesicht werden.
Die Sitzung war bisher ohne großen Erfolg verlaufen, obwohl sie schon um 9 Uhr begonnen hatte. Beutels, der den ersten Brief im Original vor sich liegen hatte, war mit seinem Referat fertig geworden: Keine Fingerabdrücke. Normales, billiges Papier, wie es überall verkauft wurde. Neutraler, ebenso billiger Umschlag mit grauem Innendruck. Stückpreis 5 Pfennig. Schreibmaschinenschrift Pica … davon gab es Millionen Maschinen. Die Pica ist die gebräuchlichste Schrift. Um noch auf die Fingerabdrücke zu kommen: Keine unbekannten Abdrücke. Sonst genug … vom Briefboten, von der Sekretärin, dem Präsidenten.
Das war alles. »Ich weiß, das ist mager«, schloß Beutels seinen Vortrag. »Aber was erwartet man auch? Eine Visitenkarte des Schreibers? Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf weitere Nachrichten zu hoffen.«
»Sie nehmen den Brief also ernst?« fragte der Innenminister.
»Nach reiflicher Überlegung – ja.«
»Und wie begründen Sie das?«
»Eine Begründung im klassischen Sinne gibt es nicht. Ich nehme die Drohung gefühlsmäßig ernst.«
Oberkommissar Abels blickte kurz hinüber zu seinem berühmten Kollegen. Er war etwas irritiert. Eine alte Kriminalistenregel lautet: Nie auf das Gefühl hören – nur Tatsachen gelten. Tatsachen sind greifbar, Gefühle unbestimmbare Reflexionen. Und hier saß nun der große Beutels, trank als einziger eine Maß Bier und warf sein Gefühl wie einen Trumpf-Buben auf den Tisch.
»Können wir alle Postämter überwachen lassen?« fragte Abels in die betretene Stille.
»Natürlich. Auch alle Briefkästen.« Der Polizeipräsident lächelte mokant. »Wollen Sie jeden Menschen, der etwas in einen Briefkasten steckt, untersuchen? In zehn Minuten hat sich das herumgesprochen, in einer Viertelstunde haben wir die Presse am Hals, am nächsten Morgen ist die Panik vollkommen. Wir waren uns darüber einig: kein Aufsehen. Geheimhaltungsstufe I. Außerdem kann der nächste Brief – wenn einer kommt – in Augsburg, Stuttgart, Hamburg, Köln, Hannover, Kiel oder wer weiß wo aufgegeben sein.«
»Mit anderen Worten« – der Innenminister sah sich fragend um – »wir sitzen hier und sind völlig hilflos.«
»Wir warten, Herr Minister«, sagte Beutels steif. »Warten können ist die beste Waffe gegen alle, die es eilig haben. Lernen wir von den Russen, meine Herren: Ihre phantastische Gabe, in großen Zeiträumen zu denken, machte sie zur Weltmacht.«
»Üben wir hier eine politische Wahlrede?« rief Abels dazwischen. Beutels winkte lässig zu ihm hinüber. Streit lag in der Luft.
»Wenn Sie konkretere Vorschläge haben, Herr Kollege. Immer zu! Das BKA hat ja den Fall übernommen. Sie müssen ja eine Vorstellung haben, wie Sie den Briefschreiber herauslocken. Wir hören –«
»Meine Herren!« Der Innenminister wedelte mit beiden Händen durch die rauchige Luft. »Meine Herren, ich habe letztlich die Verantwortung …«
»Darum geht es nicht.«
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