Die Duftnäherin
Glauben bleiben würden, sie hätte sich ohne ein Wort davongestohlen.
Sie drehte ihren Kopf hin und her, um die Schmerzen in ihrem Nacken erträglich zu machen, bog ihren Rücken durch und stützte sich dabei mit den Händen auf dem Boden ab. Unter der dünnen Strohschicht ertastete sie eine bewegliche Holzlatte.
»Na, was verbiegst du dich denn so? Willst wohl, dass ich zu dir rüberkomme, was?« Hermann griff sich in den Schritt und streckte seine Beine aus.
Anna zuckte zusammen. Allerdings nicht wegen Hermanns Anzüglichkeiten, sondern weil sie unter dem Stroh tatsächlich auf eine lose, scheinbar abgebrochene Holzlatte gestoßen war. Die Latte war zwar kräftig, aber nicht lang genug, um sie als Waffe nutzen zu können. Vorsichtig ließ sie ihre Hand weiter unauffällig über den Boden gleiten, um Stück für Stück den Holzboden unter sich zu erkunden. Dabei reckte und streckte sie sich immer wieder, damit Hermann nur ja nicht bemerkte, was sie in Wirklichkeit tat. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie einen Luftzug wahrnahm, der durch den Spalt zweier nebeneinanderliegender Bretter nach oben in den Stall drang. Unter ihr musste eine Art Hohlraum oder Grube sein. Deutlich konnte sie außerdem spüren, dass sich entlang eines der beiden Bretter, durch die der Luftzug kam, ein langer Riss zog. Vorsichtig rückte sie ein Stück davon weg, ihren Blick dabei stets auf Hermannus gerichtet, der ihre wenigen sparsamen Bewegungen jedoch ihrem schmerzenden Rücken zuschrieb und nichts Böses zu ahnen schien.
Anna drückte mit den Fingern neben den Riss, um zu spüren, wie weit das Holz nachgab. Ein kleines Knarren war die Folge, und sofort hielt sie in ihrer Bewegung inne.
Bruder Hermannus hatte die Augen zwar geschlossen, doch wollte sich die junge Frau kein weiteres Mal von ihm täuschen lassen.
»Darf ich bitte einmal kurz aufstehen? Meine Glieder schmerzen.«
Der Mönch schlug die Augen auf und musterte sie.
»Es wäre sehr gütig, würdet Ihr mir dies erlauben«, zwang sich Anna, so höflich wie nur möglich zu sein.
Er machte eine gleichgültige Handbewegung.
»Streck dich, so viel du willst. Doch wenn du auch nur einen Schritt zu viel machst, wird dir das nicht gut bekommen. Die Tür erreichst du nicht, das schwöre ich dir.«
»Danke.«
Anna stand auf, streckte sich, dehnte ihre Beine und machte dabei einen kleinen Schritt in Richtung des morschen Brettes. Wieder knarrte es, und Anna räusperte sich schnell, um den Laut zu übertönen. Dann setzte sie sich wieder hin.
»Jetzt ist es besser. Ich danke Euch!«
Er grummelte etwas, verschränkte die Arme vor dem mächtigen Leib und schloss wieder die Augen.
Anna überlegte. Vielleicht würde die angebrochene Bodenlatte ja tatsächlich unter Hermanns Gewicht nachgeben. Es war zumindest die einzige Möglichkeit, die sie hatte, um hier herauszukommen. Wieder untersuchte sie den Riss und blickte dann zu Hermann. Der rührte sich nicht.
In diesem Moment hörte sie außerhalb des Stalls Stimmen. Sie erstarb in ihrer Bewegung und lauschte.
»… dort hinten sind die Pferde. Der Mönch muss fortgegangen sein. Ich habe ihn heute noch nicht gesehen. In der Schänke warten Gäste auf mich. Wenn Ihr noch etwas wollt, findet Ihr mich dort.«
Bruder Hermannus sprang auf. »Kein Wort von dir, hörst du?«
Er zog seinen Dolch und stellte sich direkt neben die Tür.
Anna starrte angstvoll zu ihm hinüber, da wurde der Verschlag auch schon geöffnet, und ein Mann stand unter der Tür. Anna erkannte sogleich, dass er einer der Wachleute war, die für ihren Großvater arbeiteten, und schrie laut auf.
Der Mann zog darauf sofort sein Schwert. Doch Bruder Hermannus war schneller. Er fluchte laut auf, griff mit seiner Hand nach dem Fremden und zerrte ihn in den Stall herein. Völlig überrascht verlor dieser das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin.
Mit einem Satz stürzte sich Bruder Hermannus auf den Mann, der sein Schwert während des Sturzes verloren hatte und sich nun ohne Waffe seiner Haut erwehrte, so gut es ging.
Anna suchte derweil im Stroh nach der losen, kurzen Holzlatte, die sie zu Beginn ihrer Entdeckung ertastet hatte.
Die Männer kämpften um den Dolch in Hermanns’ Hand. Einen Augenblick schien es, als würde der Wachmann die Oberhand gewinnen. Verzweifelt umschlang er mit beiden Händen Hermannus’ Arm und versuchte, den Dolch von seinem Körper abzuwenden. Doch in diesem Augenblick beugte der Mönch seinen Oberkörper nach hinten und
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