Im Land des Falkengottes. Amenophis
Ein Hauch des Lebens ist der Südwind,
und was er mir gewährt hat ist,
dass ich lebe durch ihn.
S eit zwei Stunden schaukelte die Sänfte im unveränderten Gleichschritt der zwölf nubischen Träger. Die Hände des alten Mannes, der in ihr saß, ruhten auf den Rändern ihrer Seitenwände. Doch das Schaukeln war so gleichmäßig, dass er nicht viel Kraft aufwenden musste, um sich festzuhalten, was es ihm erlaubte, ohne dass er sich etwas dabei dachte, mit den Nägeln seiner beiden Zeigefinger über den Goldbelag zu kratzen. Vielmehr gab sein Körper unaufhörlich den Bewegungen der Sänfte nach, so, wie es ein Reiter auf dem Rücken seines Pferdes tut, das er im Schritt gehen lässt.
Es war still, denn niemand wagte zu sprechen. Nicht der Hauptmann der Leibgarde, der den Zug anführte, nicht die vierundzwanzig Soldaten, die den Zug begleiteten, und auch nicht die Wedelträger zur Rechten und zur Linken der Sänfte, die Mühe damit hatten, die Fächer mit Straußenfedern so zu halten, dass dem Antlitz des alten Mannes stets Schatten gespendet wurde. So hörte man nur das Knirschen des Sandes unter den Füßen der Träger und Soldaten, und hin und wieder vereinzelte Schreie zweier Jungfalken, die hoch über der Sänfte kreisten.
Die Augen des Mannes waren schwach geworden, er konnte gerade noch die beiden nubischen Träger vor sich erkennen. Sein Gehör aber hatte ihn nicht im Stich gelassen. Selbst als Zweiundsiebzigjähriger hörte er jedes noch so leise Geräusch, wie er in seinen jungen Jahren die Gabe besessen hatte, selbst im Getümmel eines Markttreibens ein Gespräch zwischen zwei Personen zu verfolgen, auch wenn er acht Ellen davon entfernt stand. An viele Ereignisse in seinem langen Leben konnte er sich nur noch schwach erinnern. Manch unbedeutende Dinge standen ihm jedoch so klar vor Augen, als hätte er sie erst gestern erlebt. Vieles hatte er ganz aus seinem Gedächtnis verdrängt. Er fragte sich jetzt, ob dies der Fluch des Alters war oder eine Gnade, dass man sich im Laufe der späten Jahre nicht mehr mit Dingen beschäftigen oder sogar abquälen musste, die man für sich selbst offenbar längst als belanglos abgetan hatte.
Aber war das überhaupt von Bedeutung für ihn, Eje, der seit drei Jahren Herrscher von Ober- und Unterägypten war, den Sohn des Re, den man den Guten Gott nannte?
Die Einsamkeit auf dem Thron der Beiden Länder quälte ihn. Es gab niemanden, dem er den Titel «Einziger Freund Seiner Majestät» verleihen wollte. Seine Weggefährten von einst ruhten in ihren Wohnungen der Ewigkeit jenseits des Berges, der vor der Sänfte emporragte.
Wo waren sie, seine Freunde? Wo waren sie, die Begleiter seines langen und mühseligen Lebensweges? Er, Nimuria, die strahlende Majestät, der Herrscher über das mächtigste Land der Erde, und seine Große königliche Gemahlin Teje? Wo waren Echnaton und Nofretete, Ejes Tochter, die Kinder des wahren Lichts? Und wo war sein Vorgänger, sein geliebter Tutanchamun, den sie die wieder erstandene Hoffnung Ägyptens genannt hatten?
Ja, wo waren die Helden, die ihn begleitet hatten im nie endenden Kampf um das Licht der Wahrheit?
Er allein war zurückgeblieben. Er ganz allein.
Nur einer war noch da, General Haremhab, sein erbittertster Gegner. Eje hatte verhindert, dass er an seiner Stelle Pharao wurde. Haremhab hasste Eje, weil er durch dessen Thronbesteigung an seiner Rache gehindert worden war. An seiner Rache an Echnaton, den er den Ketzer nannte, und an Tutanchamun.
Am Eingang zum Tal hielt die Sänfte an. Hier lösten die Wächter des Totentales die Soldaten der Leibgarde wortlos ab, und sogleich setzte sich der Zug erneut in Bewegung. Auch wenn er kaum etwas sah, so kannte Pharao den Weg zu seiner Grabstätte genau.
Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, da hörte er ein Geräusch, das nicht von den Trägern oder den Wachen verursacht wurde, sondern von etwas abseits kam. Fast unmerklich hob er die rechte Hand und sagte: «Wer ist da?»
«Ein Junge aus der Arbeitersiedlung, Majestät», gab der Vorsteher der Wächter derart hastig zur Antwort, sodass seine Absicht, Pharao zu beruhigen, allzu offenkundig wurde.
«Er soll zu mir kommen», sagte der alte Mann mit leiser Stimme, und zur Unterstützung seines Befehles winkte er mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand nach dem Knaben, der sechzehn Jahre alt sein mochte. In wenigen Sätzen erreichte der Junge die Sänfte, warf sich zu Boden und presste die Stirn in den
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