Die Dunkelheit in den Bergen
Kehren stiegen sie zur Rabiusa hinab, die in der Talsohle von einer Holzbrücke überquert wurde. Je tiefer sie kamen, desto dunkler wurde es. Sie rochen die kühle Feuchtigkeit des Flüsschens und hörten es rauschen. Die drei kannten den Weg, aber sie gingen trotzdem aufmerksam und vorsichtig hintereinander und tasteten sich mit ihren Stöcken voran. Das fahle Mondlicht zwischen den Tannen wies ihnen die ungefähre Richtung.
12 Fast zur selben Zeit standen Hostetter und Rauch vor dem unteren Stadttor von Chur. Es war geschlossen. Sie hatten schon an zwei andere Tore geklopft, wären aber auch dort nur gegen Entgelt eingelassen worden. Durch die geöffnete Luke sprachen sie mit dem Nachtwächter.
Was ist denn das für eine Behandlung, empörte sich Hostetter, wir sind doch Churer.
Die großen Tore schließen um neun, gab der Nachtwächter durch das Fenster Auskunft, die kleinen um zehn, und jetzt ist es bald elf.
Was sollen wir denn jetzt machen?, fragte Hostetter.
Das kostet drei Bluzger für jeden, dann werdet ihr eingelassen.
Was ist denn das für ein Empfang?
Das sind die Bestimmungen, ich habe sie nicht erfunden.
Was für Bestimmungen?
Vom Rat der Stadt.
Wir zahlen doch keinen Eintritt. Wir wollen nach Hause. Hier steht mein Elternhaus! Die Viehhandlung Hostetter. Und der lange Kerl da neben mir ist der Neffe vom Hufschmied Mohn.
Nach zehn Uhr kostet es drei Bluzger.
Vier Jahre haben wir in der königlich-niederländischen Armee gedient. Und jetzt werden wir so behandelt. Hier ist das Transitschreiben unseres Obersten Jakob von Sprecher –
Drei Bluzger für jeden, dann mach ich das Tor auf.
Woher kommt er überhaupt, der Herr Nachtwächter? In Chur habe ich ihn jedenfalls noch nie gesehen.
Woher ich komme, ist unwichtig. Trotzdem kann ich es euch sagen, wenn es euch hilft: aus Untervaz.
Kann er nicht einmal eine kleine Ausnahme machen?
Wenn ihr kein Geld habt, müsst ihr bis morgen früh warten.
Wir sind keine armen Schlucker, das ist es nicht.
Wo liegt dann das Problem?
Lass uns gehen, sagte Hostetter zu Rauch und drehte dem Nachtwächter den Rücken zu.
13 Der Baron lag wach in seinem Bett und starrte an die hölzerne Decke. Das Nachtlicht auf der Kommode flackerte und rußte. Er schwang seine Beine aus dem Bett, griff nach der Dochtschere und kürzte den Docht, damit das Talglicht ruhiger brannte. Die werte Gemahlin, Baronin Josepha, schlief tief und ruhig. Wie gut sie es hatte. Und sie wusste es nicht einmal. Eine der beiden Frauen hatte im Gefängnis mehrere Nächte hindurch geschrien und alle wachgehalten, bis sie im Morgengrauen endlich einschlafen konnte. Auspeitschen und kalte Wasserbäder halfen nicht. Medizinalrat Doktor Gubler hatte ihm erklärt, dass es sich dabei um Nyktophobie handelte, um eine krankhafte Angst vor der Nacht, welche wahrscheinlich auf eine Unausgewogenheit im Säftehaushalt des Menschen zurückzuführen war. Nun war die Frau geflohen und Ruhe in der Zuchtanstalt eingekehrt.
Der Baron hielt sich nicht für krankhaft ängstlich. Man war Soldat. Es war dieses unzuverlässige Nachtlicht, das ihn vom Schlafen abhielt. Außerdem hasste er einfach die Dunkelheit. Zum Aufstehen war die Nacht aber noch zu jung. Er legte sich wieder hin und schloss die Augen. Er spürte, wie die Augäpfel unter den Lidern hin- und herruckten, rauf und runter, als gelte es, etwas zu verfolgen.
Wer konnte es ihm verübeln. Die Zeiten waren unruhig. Jeden Tag drehte sich die Welt ein wenig schneller. Tag für Tag änderte sich etwas. Vor einem Jahr war Chur Hauptstadt des Kantons geworden. Die Straße über den Sankt Bernhardin war nun für Kutschen befahrbar, sechs Meter breit. Bald würde sie für den allgemeinen Verkehr geöffnet werden. Der Ausbau der Julierstraße hatte im letzten Jahr begonnen. Wenn man daran dachte, wie schnell man von Chur aus in die Welt gelangte, konnte einem schwindlig werden. In vierundzwanzig Stunden war man in Zürich! In zweiunddreißig Stunden in Bellinzona! Unruhige Zeiten. Die Regengüsse hatten im Domleschg schwere Überschwemmungen ausgelöst. In Sils wurden Häuser und Ställe einfach weggespült. Der wilde Rhein musste reguliert werden. Es gab soviel zu tun. General Napoleon Bonaparte war tot. Fürst Metternich war österreichischer Staatskanzler geworden. Die Karlsbader Beschlüsse gegen die deutschen Liberalen waren seit zwei Jahren wirksam. Immer mehr junge deutsche Lehrer kamen an die Kantons-schule nach Chur. Das wurde langsam zum Problem
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