Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
sagenumwobene Einhorn steht noch über ihm«, sagte er, und als ich ihn bat, mir davon zu erzählen, breitete er die Legende der Einhörner vor mir aus, und ich weinte bittere Tränen, als sie zu Schaum auf den Wellen wurden und für immer von der Erde verschwanden, genau wie der göttliche Pegasus, das geflügelte Ross der Dichter und Denker.
Von da an liebte ich die Pferde noch mehr, ja man nannte mich regelrecht pferdenärrisch, und viele Stunden, die ich im Stall verbrachte, um sie zu striegeln, stand ich immer wieder vor Begierde zitternd neben ihnen und fühlte ein unbändiges Verlangen nach ihrem Lebenssaft. Aber ich hätte ihnen niemalsein Leid antun können. So ging ich durch eine harte Schule, in der ich mich immer wieder selber mit meinen archaischen Trieben konfrontiert sah und dennoch die Kraft aufbrachte, mich wegen der Liebe zu diesen Geschöpfen im Triebverzicht zu üben, ohne dass ich bis dato jemals von einem Dr. Sigmund Freud gehört hatte.
Conrad Lenz saß auf der Bank und mein Rollstuhl stand etwas mehr als eine Armeslänge von ihm entfernt davor. Er sah mich nur an, immer noch schweigend, aus seinen dunklen Augen, mit konzentriertem Blick.
Eine hypnotische Kraft ging von ihm aus, so wie von jenem Magier, der zusammen mit dem großen Pilati im Wintergarten in Berlin aufgetreten war und der mich als Kind sehr geängstigt hatte. Es war, als griffe Lenz mit seinen Blicken nach mir, dringe durch die Pupillen in mich ein und spähte bis auf den Grund meiner Seele. Und als hätte er bei diesem tiefen Blick dort eine lebendige Regung entdeckt, meinte er plötzlich optimistisch:
»Amanda, ich werde Ihre schöne Seele aus dem Gefängnis dieses erstarrten Körpers befreien. Vertrauen Sie mir.«
Das wollte ich wohl tun, doch als er nun seine Hand auf die meine legte, da schrie meine schöne Seele einfach nur wild und ungebärdig nach Blut! Aber auch jetzt vermochte ich nicht, meinen Panzer zu durchbrechen, und er zog seine Hand zurück, bevor ich die pulsierende Ader an seinem Handgelenk mit den Zähnen erreichen konnte.
Ich starrte mit unnatürlich erweiterten Pupillen in sein Gesicht und flehte mit stummen Worten um Hilfe.
»Ich fühle, dass Sie leiden, Fräulein Amanda, und ich würde Ihnen so gerne helfen, aber noch weiß ich nicht, wie ich zu Ihnen durchdringen soll.«
Die Gedanken arbeiteten hinter seiner Stirn, und ich fand es sehr angenehm, von ihm gesiezt zu werden. Das war eine Höflichkeit, welche die Pfleger und Schwestern der Klinik vermissen ließen, wie überhaupt ihr Umgang mit den Patienten sehr distanzlos war und von mir als würdelos erfahren wurde. Lenz war wohltuend anders.
Soeben kratzte er sich am Kinn, wo sich ein paar Bartstoppel zeigten.
»Wir müssen Sie aus dieser Erstarrung herausholen«, meinte er grübelnd. »Ich könnte versuchen, Sie zu hypnotisieren … Nein, erschrecken Sie nicht, es ist ganz harmlos und eine anerkannte Methode in der Psychiatrie. Auch Freud hat Patienten hypnotisiert, um ihre Ablehnung gegenüber der Psychoanalyse zu brechen. Es tut nicht weh … Andererseits ist es fraglich, ob im Zustand der Katatonie eine Hypnose überhaupt möglich ist … angenommen, die Starre hat nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche versteinert …«
Er hatte am Ende mehr zu sich selbst als zu mir gesprochen und wirkte unentschlossen. Dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, ich glaube, es wäre dafür noch zu früh. Wir müssen versuchen, erst einmal den Stupor zu brechen, damit ich Ihr Inneres erreichen kann.«
Fortan versuchte Lenz, mich auf anderem Wege langsam wieder für die Welt zu sensibilisieren. Aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund hatte er sich vorgenommen, mich nicht meinem traurigen Schicksal zu überlassen, und ich begann mich an seine Gegenwart zu gewöhnen und ihm sogar dankbar zu sein.
»Sie können nicht nur isoliert in der Zelle hocken, dortmuss jeder erstarren. Sie brauchen Anregungen, Luft, Geräusche, Menschen um sich herum«, war sein beständiges Credo, und so fuhr er fort, mich in der Dämmerung in den Garten zu schieben, damit ich die Natur hörte, das Rascheln in den Zweigen, die Rufe der Nachtvögel, das Wehen des Windes fühlte … und tatsächlich machte es mich weicher, aber es war offenbar nicht das, was mir wirklich fehlte.
Meine ganze Kindheit war von einem Verlangen geprägt, das wie eine zweite Natur sporadisch in mir aufstieg und meist vergeblich nach Befriedigung schrie. Ich fand es unheimlich, denn es war
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