Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
Manne konnte geholfen werden.
Ich begann ein wenig mit dem Fuß zu zucken und dann mit ihm zu wippen. Eine Sensation, die ich an den nächsten Tagen nicht nur wiederholte, sondern steigerte, was schließlich dazu führte, dass Lenz mich aus dem Rollstuhl hob, um mir das Gehen neu beizubringen.
Er hatte kräftige Arme mit zupackenden Händen und erroch angenehm, wenn auch ein wenig nach Karbol. So ließ ich es geschehen und ihn in dem Glauben, dass er es war, der mich Schritt für Schritt ins Leben zurückholte.
Allerdings zog sich die Sache dann doch etwas hin, und der Spaß daran wurde mir dadurch vergällt, dass sich bereits erneut in mir die Bestie rührte und das Verlangen nach Blut nicht einmal in seiner Gegenwart verstummen wollte, sondern eher noch stärker wurde. So beschloss ich, die Komödie zu beenden, umgehend meine Sprache wiederzufinden und Lenz darin zu bestärken, mich nach Blankensee zurückzubringen.
Blankensee. Eine diffuse Erinnerung, aber von einer Magie, der ich mich nicht entziehen konnte. Immer wieder, seit ich in der Anstalt war, musste ich an das Gut denken. Sogar in meiner todesnahen Erstarrung stahl es sich in mein abgetötetes Gehirn. So als wäre es ein verschütteter Teil von mir, der mir wieder Leben einflößen könnte.
Ich sah das große, alte Gutshaus, roch die Pferde, fühlte die wechselnden Jahreszeiten, hörte Rieke singen …
Letzte Rose, wie magst du so einsam hier erblüh’n …
All die Jahre hatte meine Sehnsucht nur einen Namen … Blankensee!
I
ch musste zurück auf das Gut, wie auch immer! Und Lenz musste mir dabei helfen. Ganz so schnell, wie ich gehofft hatte, ging das freilich nicht, denn Müller-Wagner hatte mich zwar an Lenz übergeben, wollte aber dennoch sehr genau darüber informiert werden, welche Methoden Lenz anwandte und was sie bewirkten. Doch Lenz’ wissenschaftlicher Ehrgeiz erwies sich insgesamt als sehr förderlich.
Er begann nämlich, sobald ich wieder sprechen konnte, eine Methode bei mir anzuwenden, die er in der Züricher Klinik Burghölzli bei C. G. Jung kennengelernt hatte und die auch Müller-Wagners Hang für elektrische Spielereien entgegenkam. Es handelte sich um ein sogenanntes »Psychogalvanisches Experiment«, welches ein gewisser Ludwig Binswanger in seiner Doktorarbeit beschrieben hatte und dessen Anwendung Lenz gerade bei mir sehr sinnvoll erschien.
»Es geht darum, dass Sie auf eine Anzahl von Reizwörtern, die ich Ihnen vorlese, frei und schnell sagen, welches andere Wort Ihnen dazu spontan einfällt. Einige Begriffe werden bei Ihnen sicherlich eine übermäßige emotionale Reaktion auslösen. Schon das ist für mich ein Fingerzeig Ihres Unterbewusstseins. Zugleich wird im galvanischen Experiment Ihr Hautwiderstand gemessen. So kann man auch objektiv feststellen, welche Begriffe Sie besonders erregen, und wir erhalten eine Bestätigung für eventuelle Störungen oder Verdrängungen.«
Ich fand es nicht besonders amüsant, mich erneut verkabeln zu lassen, aber da ich ein kooperatives Verhalten zeigen musste, wenn ich jemals aus dieser Anstalt herauskommen wollte, überwand ich mich, legte mich neben den elektrischen Apparat auf die Liege und assoziierte zu Lenz’ Begriffen munter vor mich hin. Dabei brachte ich ihn mit einigen von ihm offensichtlich überhaupt nicht einkalkulierten Antworten ganz schön in Verlegenheit.
Durst – Blut, Sonne – Schmerz, Beißen – Blut und Mutter – Gewalt waren nur einige der Begriffspaare, die ihm sichtlich Kopfzerbrechen bereiteten. Insbesondere, weil das Galvanometer dafür eine deutliche Erregung bei mir anzeigte.
Wir führten dieses Experiment mehrmals durch, dann aber kam Lenz zu dem Schluss, dass er an dessen Grenzen angekommen war.
»Wir müssen die Methoden verbinden«, meinte er zu Müller-Wagner. »Es gibt nun genügend Hinweise auf eine Traumatisierung, aber nur wenn ich auf dem Weg der tiefenpsychologischen Analyse bis in Amandas Unbewusstes vordringen kann, werde ich auch die Kausalität für ihre Störung ermitteln können. Dann erst können wir mit der Heilbehandlung anfangen.«
Also begann Lenz mich nun nach der Methode des Dr. Sigmund Freud zu analysieren. Durch seine sanfte, einfühlsame Art, zu fragen und mich reden zu lassen, sagte ich weit mehr, als ich bewusst erinnerte. Ganz unvermittelt und unbeeinflusst von meinem Verstand stiegen Bilder aus meiner Vergangenheit auf, die mich selber überraschten und mir überwiegend so fremd waren, als handelte es
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