Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
wirklichen Leben gar nichts zu tun hatte. Ähnlichkeiten konnten doch rein zufälliger Natur sein und bei mir ganz andere Ursachen haben. Traumata, frühkindliche Störungen, Verlusterfahrungen … Lenz hatte so vieleüberzeugende Theorien entwickelt, die mir plötzlich wieder sehr viel stichhaltiger erschienen als die fantastischen Ausgeburten eines vermutlich leicht irren Filmemachers!
Ich gab mich kurz dieser Hoffnung hin, doch als mich Waldemar in den Garten lockte, um ein wenig mit mir zu schäkern, da war es damit sehr schnell vorbei. Mein Biss betäubte ihn schlagartig, und als ich sein warmes, auf der Zunge prickelndes Blut aus ihm heraussaugte, da wusste ich mit letzter Sicherheit, dass ich ein reales und lebendiges Exemplar jener Geschöpfe der Finsternis war, die der Film als reine Fantasieprodukte zur Unterhaltung und Belustigung dargestellt hatte. Und das war alles andere als unterhaltsam. Am wenigsten natürlich für Waldemar. Friede seiner Seele!
Am nächsten Morgen quollen die Zeitungen über von Berichten und Kritiken zum Filmfest des Nosferatu . Der Ball wurde in höchsten Tönen gelobt und sämtliche Prominenz aufgezählt, die sich dort ein Stelldichein gegeben hatte.
Die Bemerkungen zum Film selber hingegen waren längst nicht alle positiv. Was dem Ganzen aber die Krone aufsetzte, war die Frage eines Journalisten, ob die blutleere Leiche im Zoo, mit den merkwürdigen Bissmalen am Hals, als Werbeeffekt für den Film nicht ein wenig zu weit ginge?
Ich lag angekleidet auf meinem Bett, als Vanderborg mir ein Frühstück und ein paar Zeitungen durch die Putzfrau bringen ließ, die dreimal in der Woche für ihn ein wenig Ordnung machte. Das andere Personal hatte er längst entlassen, weil er es sich nicht mehr leisten konnte, seit er wegen seines fortgeschrittenen Alters die Arbeit beim GroßenPilati eingestellt hatte. Natürlich aß ich nichts. Davon abgesehen, dass ich menschliche Nahrung immer schon verabscheut hatte und auch gar nicht vertrug, war ich noch gut von meinem Nachtmahl gesättigt.
Ich war zunächst völlig verwirrt gewesen, aber je länger ich nach unserer Rückkehr in die Brüderstraße darüber nachgedacht hatte, desto logischer erschien mir alles.
Meine ganze Kindheit sah ich plötzlich unter einem anderen Blickwinkel. Was ich bisher mit einem wilden, bösartigen Monster in mir entschuldigt hatte, erklärte sich nun aus meiner vampirischen Natur und bedurfte deswegen keiner Entschuldigung mehr. Das erleichterte mich zunächst sehr, weil es mich von schlimmen Verbrechen freisprach. Aber dann fiel mir der kleine blonde Junge ein und ich fühlte instinktiv, dass meine Probleme nun wohl erst richtig anfingen. Eine Vampirin zu sein konnte schließlich nicht heißen, plötzlich einen Freibrief zum Morden zu haben.
Seine Triebe ungestraft und hemmungslos auszuleben, erschien zwar verlockend, doch lag in dem Moment, wo ich kein Monster mehr dafür verantwortlich machen konnte, die ganze Verantwortung bei mir und damit auch die ganze Schuld. Jedes einzelne Opfer war mein Opfer gewesen, der kleine Junge, Rieke, Waldemar … jedes einzelne klagte mich an! Mich allein, nicht irgendeine dubioses Bestie in mir! Der Gedanke machte mich fast wahnsinnig, und als ich darüber in Tränen ausbrach und schluchzend auf mein Bett sank, da wünschte ich mir Conrad herbei, damit er mir in dieser Seelenqual mit Dr. Freud zur Seite stand. Er war so klug und rational und würde mir gewiss erklären können, wie ich mit dieser Schuld umgehen musste, um nicht verrückt zu werden.
Irgendwann versiegten meine Tränen, und nach demverzweifelten Zusammenbruch stellte ich nun fest, dass ich so gut wie nichts über Vampire wusste. Über wirkliche Vampire, nicht über die skurrile Ausgeburt eines Filmemachers. Was waren das für Wesen, was hatten sie für Gefühle und Bedürfnisse? Worin lag ihre besondere Natur, ihre ganz eigene Identität? Warum sahen sie aus wie Menschen, wenn sie doch gar nicht zu ihnen gehörten, sondern sich nur von ihrem Blut ernährten? Wo kamen sie überhaupt her? Waren sie Ausgeburten der Hölle? Verfluchte? Deswegen verdammt Blut zu trinken? Ich fühlte die Angst kalt in mich hineinkriechen, und drängender als je zuvor stellte sich mir die Frage: Wer bin ich?
Gedankenverloren blätterte ich mich durch die Zeitungen und entdeckte dabei ein Foto, auf dem ich ganz klein in Waldemars Armen auf der Tanzfläche zu sehen war. Ich schnitt es mir aus und legte es in Estelles
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