Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
Ereignis der Saison zu werden versprach. Was Rang und Namen in Berlin hatte, würde dort anzutreffen sein. Durch allerlei Beziehungen war der Große Pilati in den Besitz einer Anzahl von Vorzugskarten gekommen und gab großmütig eine an seinen alten Weggefährten Jakob Vanderborg weiter. Sie galt zugleich für eine Begleitperson und die war selbstverständlich ich.
Lenz konnten wir diesmal also nicht mitnehmen, was sich nach der Erfahrung auf dem Silvesterball bei Hansmann auch nicht anbot, denn obwohl wir nie wieder den Vorfall angesprochen hatten, war ich mir keineswegs sicher, dass etwas Ähnliches nicht noch einmal passieren könnte. Lenz, Tanzvergnügen und Alkohol passten wohl nicht zusammen, wenn beim Zusammentreffen dieser drei Dinge sein Triebverhalten nicht mehr kontrollierbar war. Das war ihm selber inzwischen wohl auch klar geworden, denn nur so ließ sich erklären, warum er zu mir trotz des Du zunehmend auf Distanz ging und jeden nicht beruflichen Kontakt vermied. Sogar die Teestunden mit Großvater Vanderborg stellte er ein, was diesen sehr betrübte. Seine analytischen Sitzungen reduzierte er, mit Arbeitsüberlastung begründet, auf zwei in der Woche, was aus meiner Sicht allerdings auch vollkommen ausreichte. Ich brauchte wirklich keinen Therapeuten, der seine Libido nicht im Zaum halten konnte! Wozu erklärte er mir das Prinzip der Sublimation, wenn er selber dazu nicht in der Lage war. Warum malte er, statt seinen Sexualtrieb mit Küssen zu befriedigen, nicht lieber einen nackten weiblichen Akt? Riesengroß von mir aus, auf Leinwand und in Öl! Als ich ihn das indirekt fragte, seufzte er nur und meinte: »Das bringt gar nichts, Amanda. Wenn man nicht wirklich verzichtet, sondern Triebe nur umlenkt, was gerade im Zusammenhang mit der Sexualität sehr häufig geschieht, wie Freud feststellt, dann wird man krank. Heimliche Wünsche dauerhaft nicht erfüllt zu bekommen und ins Unbewusste zu verdrängen, ist die Hauptursache für neurotische Leiden.« Er sah mich mit einem ironischen Lächeln in den Augenwinkeln an. »Du kannst mir doch so ein Schicksal nicht wünschen wollen, Amanda!«
»Wer weiß«, sagte ich schnippisch. »Es wäre doch höchst amüsant, einmal die Seiten zu wechseln. Du auf der Couch und ich im Analytikersessel.«
Ob er mit seinen Methoden jemals bis zu den Abgründen meiner Seele vordringen würde, begann ich inzwischen zunehmend zu bezweifeln, irgendwie schien ich doch nicht so gut in das Schema des Dr. Freud zu passen, wie Professor Müller-Wagner anfangs gedacht hatte.
So war ich fest entschlossen, mich auf dem »Fest des Nosferatu« auch ohne Lenz zu amüsieren. Lediglich als Tänzer könnte er mir fehlen, denn nach der Filmvorführung sollte ein festlicher Ball stattfinden. Zudem waren die Gäste angehalten, in Kostümen im Stil des Biedermeiers zu erscheinen, was ein überaus romantisches Tanzvergnügen erwarten ließ. Doch der Große Pilati hatte genügend honorige Freunde, unter denen sicher auch ein paar Menschen meines Alters anzutreffen waren, sodass ich auf jeden Fall Gelegenheit zum Tanzen finden würde.
Ich hatte noch nie eine Filmvorführung erlebt, nur den Großvater davon erzählen hören. In Blankensee lagen wir ziemlich weit ab von Berlin und in den Dörfern pflegte man diese Art von Volksbelustigung nicht. Nach Berlin aber reiste meine Mutter meistens alleine, und während meiner Kindheit herrschten überwiegend Krieg und Hunger und die Menschen waren mit anderen Dingen beschäftigt.
Als wir am Abend des 4. März 1922 den Marmorsaal im Zoologischen Garten betraten, trug der Großvater einen Vatermörder und einen Gehrock aus dunkelbraunem Samt und ich ein Krinolinenkleid mit eng geschnürter Taille aus tiefblauer Doupionseide. Alles hatte der Große Pilati aus seinem Kostümfundus gestiftet. Meine leuchtend blondenHaare waren im Stil des Biedermeiers aufgesteckt und nur ein paar freie Locken rahmten mein Gesicht.
Es konnte nicht nur an der Schnürung liegen, dass mich sofort eine Beklemmung befiel. Der Saal war von einem getäfelten Bogengewölbe überspannt, von dem riesige, mit unzähligen Glühbirnen bestückte Lichtreifen gewaltiger Kronleuchter herabhingen. Hohe kleinscheibig verglaste Fenster erzeugten eine nahezu sakrale Stimmung. Außerdem drängten sich dort viel zu viele Menschen.
Ich merkte, wie ich hysterisch wurde und vom Scheitelpunkt meines Kopfes aus ein unwillkürliches Vibrieren meinen ganzen Leib inwendig zu fluten schien. Ich
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