Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
fühlte mich plötzlich hungrig und durstig, und von jedem der mich umgebenden Körper nahm ich nur ein Signal wahr: Blut!
Frisches, nahrhaftes, lebenserhaltendes Blut! Sublimierung zwecklos! Das Monster war erwacht!
»Lass uns wieder gehen, Großvater«, bat ich kopflos werdend. »Bitte, die Luft hier ist zu stickig … Ich fürchte, ich werde einen Anfall bekommen und mit meinem Husten den Leuten hier den Spaß verderben …«
Aber Großvater Vanderborg war absolut erpicht auf das Filmereignis und redete mir darum gut zu, mich doch zu entspannen und wenigstens erst einmal den Anfang anzusehen und auszuprobieren, ob ich mich nicht doch an die Luft gewöhnen könnte …
»Die Spannung wird dann ihr Übriges tun. Du wirst so fasziniert sein, dass du alles andere vergisst!«
Wie recht er hatte!
Nosferatu war ein Stummfilm, der mit symphonischer Musik unterlegt war. Zum Auftakt der Uraufführung spielte eine Kapelle unter der Leitung des Komponistendiese Filmmusik als Ouvertüre, was bereits große Erwartungen weckte.
Als die ersten schwarz-weißen Bilder über die Leinwand flimmerten, johlte das Publikum noch, aber bald herrschte gebannte Stille. Auch in mir.
Und dann ergriff das Grauen von mir Besitz und von einer Minute auf die andere enthüllte sich mir die Tragik meines Schicksals.
Graf Orlok, diese entsetzliche, hohläugige Schreckensgestalt auf der Leinwand, war zwar nur das Fantasieprodukt eines manischen Filmemachers, aber er war auch der Schlüssel zu meinem Selbst.
Was Lenz in monatelangen psychoanalytischen Sitzungen nicht ans Licht hatte zerren können, das enthüllte sich mir nun in seiner ganzen grauenvollen Dimension bei einer Volksbelustigung. Makaberer hätte es kaum sein können.
Ich fühlte, wie sich von Szene zu Szene in mir die Ablehnung gegen diese Erkenntnis steigerte, ja, ich nahe daran war, wieder in die Erstarrung der Katatonie zurückzufallen, um alles auszublenden, was mich berührte und betraf und doch nicht zu ertragen war. Aber zugleich spürte ich die warme Hand von Großvater Vanderborg, welche die meine sicher hielt und nicht losließ, so als ahnte er, dass ich ohne diese Bindung verloren wäre.
Längst verblasste Erinnerungen aus meiner Kindheit überfluteten mich mit ihren Bildern, sodass ich bald kaum noch etwas von dem Film wahrnahm.
Der Ekel vor aller Nahrung, der ständige Durst, die heimliche Jagd auf Hühner und Ratten, Mutters Tadel deswegen … Derkleine Junge am See … Wilhelms Kuss an jenen Ostern, als ich ihn zurückstieß und in den Hals biss, weil mich eine unerklärliche Gier nach seinem Blut befallen hatte …
Und dann das grauenhafte Blutbad … an Rieke, die Pfleger in der Anstalt … der junge Mann vom Weihnachtsmarkt.
Alles stand ganz plötzlich vor meinen Augen und lief wie ein zweiter Film in meinem Inneren ab. Erst schwarz-weiß wie vor mir auf der Leinwand, dann blutig rot und lebensgroß … so gewaltig und brutal, dass mich das Entsetzen fast zu ersticken drohte.
»Großvater«, flüsterte ich mit nahezu versagender Stimme, »wir, wir müssen gehen … sofort!«
Doch Vanderborg war völlig absorbiert vom Filmgeschehen, hörte gar nicht hin, sondern verstärkte lediglich den Griff um meine Hand. Er war erregt, ich merkte es, denn seine Finger waren plötzlich schweißnass.
So hielt ich, eingeklemmt zwischen den Zuschauern, den Blick äußerlich auf die Leinwand gerichtet, eine Innenbeschau meiner Seele ab, die mir ein Vielfaches gruseliger war als der vorgeführte Streifen, denn was ich dort sah, war nicht Fiktion, sondern grausame Wirklichkeit und ließ nur einen Schluss zu: Ich war eine Vampirin!
»Warum dürstet es mich so nach Blut?«, hatte ich die Mutter gefragt und sie hatte versprochen, es mir zu erklären.
»Wir werden darüber sprechen, wenn es an der Zeit ist.«
»Wann wird das sein?«
»Bald, schon bald«, hatte sie in Aussicht gestellt. »Ich komme darauf zurück …«, aber sie tat es nie. Stattdessen verschwand sie von einem Tag auf den anderen und ließ mich mit meinen Problemen bei Hansmanns Familie zurück.
»Sie ist kein Mensch«, hatte mein Vater gesagt, an jenem Abend am See … Hatte er damit andeuten wollen, dass auch sie eine Vampirin ist?
Auf der Leinwand reihte sich mittlerweile Szene an Szene. Orlok im Sarg in der Gruft seiner Burg in den Karpaten … Orlok mit seinen Särgen voller Heimaterde auf dem Schiff … der Kapitän ans Steuerrad gebunden mit magischem Wind in den Segeln, den der
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